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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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sterben wollte.
    In dieser Stille hörte ich meinen Herzschlag; wortlos sah ich dem
Unterarzt oder dem Professor zu, wie sie ernst an mein Bett traten und meine
kraftlose Hand nahmen, wie sich ein paar menschliche Finger mit einer
Schlagader unterhielten. Diese Schlagader pochte jetzt leise, die Müdigkeit,
die sich in meinem Körper ausgebreitet hatte, war allgemein und gleichmäßig.
Ein langsamer, tiefer Strom war diese Müdigkeit; nicht nur meine Hände waren
müde, ich war nicht nur zu müde zum Essen und Schlafen, nicht nur die Hände und
Füße wurden mir taub in dieser eigenartigen, inneren Untätigkeit, nein, der
ganze Körper schien auf einmal erschöpft zu sein, wie nach einem großen,
angestrengten Kampf oder Marsch. Und dieser Kampf oder Marsch war nicht die
Krankheit, sondern das ganze Leben. Jetzt »erholte« ich mich wirklich. Mir
fehlte nichts, ich verlangte nach nichts, ich war heiter und ruhig. Wenn dies
das Vorgefühl des Todes ist, dann kann der Tod nicht schlimm sein; zwar hatte
ich zuvor unruhige Sterbende gesehen und sah auch nachher wieder welche, die
keuchten, die in beklemmender Erregung, wortwörtlich in Todesangst röchelnd und
protestierend mit etwas kämpften. Zu mir kam diese Kraft sanft, im nebelhaften
Kostüm der Stille.
    Ich hörte zu und begann zu verstehen, dass alles, was mich bislang
an die Welt gebunden hatte, Rauch war und Nebel, dass für mich jetzt eine
andere Wirklichkeit begann.
    Irgendjemand wollte nicht, dass ich starb.
    Kann man eine Kraft spüren und wahrnehmen, die keine Stimme und
keine Bewegung hat, die sich auf keine irdische, physikalische, mit
Instrumenten messbare Weise äußert? Man kann sie weder messen noch
fotografieren. Die Instrumente nehmen auch unsichtbare Strahlen wahr und
bestätigen sie; aber hier wirkten keine Strahlen, auch kein Strom, sondern
etwas anderes. Was war das für eine Kraft?
    Ich beobachtete auch, dass sie nicht immer mit gleicher Inbrunst
strahlte. Manchmal war der andere Wille mächtiger, der meinen Körper, meine
Seele und mein Bewusstsein durchdrang: die Absicht, die mich dazu bewegte,
alles zu vergessen und einzuschlafen, tief zu schlafen. Manchmal ermüdete die sonderbare
Sendestation, welche die ermunternden, Leben spendenden Strahlen zu mir sandte,
manchmal arbeitete sie schwächer, unsicherer. Dann strichen meine Ärzte öfter
um mein Bett, fühlten besorgt meinen Puls, die Spritze kam zum Vorschein,
Dolorissa erschien und brachte auf einem Nickeltablett feierlich die
herzstärkenden Mittel. Wortlos beobachtete ich und atmete schwach. Wie ein
Taucher, der im tiefen Wasser, in der Gefahr, spürt, dass irgendwo weit weg in
der Höhe, auf dem Schiffsdeck, der Sauerstofftank und die Strombatterie, von
denen Drähte und Rohre gespeist werden, nicht mit voller Kraft arbeiten und er,
der Taucher, in der Tiefe nicht im regelmäßigen Takt und ausreichender Menge
künstliche Luft bekommt. Seine Lunge wird ihm eng, das Herz beginnt wild zu
schlagen. Denn jetzt verband ein unsichtbarer Draht mein Leben mit der
Kraftquelle, die hier in meiner Nähe arbeitete und bei Tag und Nacht
unermüdlich dafür sorgte, dass ich nicht sterben wollte.
    Die Schwestern schwiegen. Sie schwiegen gut. Wir beobachteten
einander stumm. Dieser überirdische Zweikampf, jenseits der Grenzen von
Verstand und Wirklichkeit aus Fleisch und Blut, fand dennoch im Zustand des
Lebens statt, und ich konnte nicht wissen, wer mein geheimer Verbündeter war.
Ich wünschte, es wäre Cherubina, stellte mir aber auch vor, dass Dolorissa,
Matutina oder Charissima es waren. Und aus der grubenartigen Deckung heraus,
die schon halb ein Grab war, beobachtete ich wortlos. Ich lauerte auf ein
verräterisches Aufblitzen des Blicks, auf ein unbewusstes Zeichen. Manchmal war
die Botschaft lauter, manchmal müde wie ein erlöschendes Licht, ein
ausklingender Ton; manchmal war sie schmetternd, brannte beinahe, glühte. Ich
beobachtete und glaubte einige Male schon Zeichen wahrzunehmen: Matutina sah mich
anders an, Cherubina hatte schlechte Laune, sie saß mit gesenktem Kopf an
meinem Bett und ließ im Halbschlaf den Rosenkranz durch die Finger gleiten;
Charissima, die Kranke, wachte mit mechanischem Grinsen und maskenartigem
Gesicht gewohnt gleichmütig, und für Dolorissa konnte ich nicht mehr und nichts
anderes sein, als ich bisher war: ein hinter einer Zimmernummer

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