Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
zurücktrat, sah sie es. Eigentlich war es unspektakulär, doch für sie jetzt nicht.
Von der anderen Seite des Drillhauses sah es aus, als ende der den Holzplatz umgebende hohe Zaun an der Mauer des alten Exerzierhauses. Doch das stimmte nicht. Natürlich war es Verschwendung von Raum und vor allem von Holz für den Zaunbau, wenn man die Drillhausmauer nicht als Begrenzung genutzt hatte, selbst die Mauern der Hauptkirchen und des Doms wurden seit jeher als Rückwand für andere Gebäude benutzt. Hier verlief der Zaun des Holzplatzes vier oder fünf Fuß von ihr entfernt parallel zur Drillhauswand zum Ufer. Am Ende des Durchganges konnte Rosina keinen Steg oder Anleger entdecken. Im Sommer mochte hier wildes Grün wuchern, jetzt lag der Gang öde, kein Strahl der noch tief stehenden Sonne erreichte seine Sohle. Die Lücke zwischen Zaun und Drillhaus war einfach da.
Wie hatten sie das übersehen können!? Wagner und sie hatten sich vergeblich den Kopf um den nächtlichen Zugang zum Holzplatz zerbrochen. Hier musste es geschehen sein. Nicht auf dem Holzplatz, sondern hier, in dieser engen, von nirgendwo einsehbaren überflüssigen Nische der Stadt, war Wanda Bernau in den Tod gegangen.
Rosina schlug den Pelzkragen hoch und raffte ihren schweren Umhang fest um ihren angespannten Körper, dann gab sie sich einen Ruck und lief die wenigen Schritte durch den Gang bis zum Ufer. Die Eisfläche, noch vor wenigen Tagen glatt, fest und ungemein einladend, begann sich aufzulösen, eine ganze Anzahl von Wildenten, auch einige Schwäne tummelten sich schon in den freien Stellen. Im Sonnenschein war es ein schönes, einen unaufhaltsamen Frühling verheißendes Bild, nun erschien es ihr bedrohlich. Ein Bild, eine Landschaft, ein Gegenstand sind ja wie die Menschen niemals nur das, was ihre äußere Gestalt zeigt. Ihre Bedeutung liegt im Auge, in der Seele des Betrachters.
Ihr Blick folgte der jenseitigen Uferlinie, sie erinnerte sich nun wieder, was sie bei ihrem letzten fliegenden Gleiten über die Eisfläche gesehen hatte: so wie auch jetzt den Malthus’schen Garten, dahinter die kreuz und quer aufragenden roten Dächer der Häuser im Viertel um den Gänsemarkt, weiter rechts unverkennbar das langgezogene Ziegeldach des querstehenden Ackermann’schen Komödienhauses, dann die beiden alles, selbst den dahinterliegenden von Ulmenalleen gesäumten Festungswall überragenden Schornsteine des Kalkhofes, den dorthin führenden Stichkanal, endlich die drei Villen in den letzten großen Gärten innerhalb des Wallrings und noch weiter rechts das Lombardhaus, die Mühle mit Dr. Pullmanns Domizil und die Brücke.
Das alles war ihr vertraut, da war noch etwas anderes in ihrem Kopf, eine andere Facette des Bildes. Die mit ihren Stöcken einen Stein über das Eis jagenden Jungen? Hoffentlich waren sie nach ihrer sausenden Fahrt unter der Lombardbrücke hindurch trocken und unversehrt an einem der Ufer angekommen, doch wäre es anders, hätte sie davon gehört. Unglücke sprachen sich selbst in dieser großen Stadt in Windeseile herum.
Plötzlich tauchte es aus einer dunklen Ecke ihrer Erinnerung auf, sie sah – nein, zuerst hörte sie es. «Plus vite» , rief eine helle Mädchenstimme. «Bitte, Mademoiselle. Schneller.» Da war diese ganz und gar in schlichtes Grau gekleidete Frau unter ihrer Kapuze gewesen, wohl eine Gouvernante, sie hatte das Kind in seinem mit Kufen versehenen Stuhl über das Eis geschoben – viel zu langsam für das Mädchen mit den verkrüppelten Beinen. Es war glücklich gewesen, dieses Kind, das nicht laufen und springen konnte wie andere kleine Menschen und nun eine Ahnung von dem Vergnügen rascher Bewegung und der Geschwindigkeit bekam. Und dazu diese nachlässige Gouvernante, die zu bequem war, um schneller zu schieben – vielleicht zu müde Füße hatte oder geschwinde Bewegungen als undamenhaft empfand?
Plus vite, plus vite .
Gleich darauf hatte sie den Riss im Eis gehört und war geflohen, hatte das Kind und seine Erzieherin völlig vergessen. Auch sie mussten das Ufer sicher erreicht haben, erst recht davon hätte man sonst gehört. Sie überlegte flüchtig, ob sie selbst sich mit einem Kind an jenem Tag noch auf das Eis gewagt hätte. Zumindest nach Monsieur Klopstocks Warnungen sicher nicht. Selbst etwas zu wagen, Warnungen in den Wind zu schlagen war eine Sache, das Leben oder auch nur Wohlbefinden eines Kindes zu riskieren eine andere.
Aber das ging sie nichts an. Dennoch, aus irgendeinem
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