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Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Grund hatte sich das Bild ihr eingeprägt.
    Plus vite. Hatte das vor vielen Jahren nicht auch ihr kleiner Bruder gerufen, als er sein dickes Pony anspornte, weil er seiner davonpreschenden ungehorsamen Schwester folgen wollte? Plus vite. Er war noch zu klein gewesen für einen so schnellen Ritt, er war gestürzt, sein Tod war der Anfang des Endes ihrer Familie gewesen, ihres alten behüteten Lebens.
    Eine dunkle Wolke schob sich vor die Sonne und verwandelte die strahlende Fläche aus Wasser und Eis im Handumdrehen in stumpfes Grau, Schwarz und schmutzig gelbliches Weiß. Endlich senkte sie den Blick und sah dorthin, wo Wanda Bernau im rasch gefrierenden Wasser versunken sein mochte. Sah, wie ihr warmer lebendiger Körper in diese trügerische Fläche von eisigen Brocken gestoßen wurde. Stolpernd, fallend, in hinderlichen Röcken, mit einem noch hinderlicheren Umhang, nichts, das gegen das Eis wärmen würde – gar nichts könnte das –, alles würde sich nur verfangen, unbeweglich machen. Aber das war ohnedies einerlei, die Schollen wichen, um sich sogleich über den sinkenden, noch einmal um sich schlagenden, noch einmal aufbäumenden Körper unerbittlich zu schließen.
    Abrupt drehte sie sich um, wandte sich ab von der mörderischen Vision und sah doch immer noch die versinkende Frau, sah einen brutalen, unerwarteten Tod, schüttelte sich, als könne sie die Bilder abschütteln wie Wassertropfen, und richtete die Augen fest auf den Gang und die dahinterliegende Stadt, den kleinen Platz beim Tor zum Holzlager, die Reihe der Häuser. Sie sah Menschen, eilend oder schlendernd, einfach alltäglichen Geschäften nachgehend, sah Karren, Fuhrwerke, auch zwei Reiter, ein paar Straßenhändler, Kinder, Frauen mit Körben voller Einkäufe, ein bisschen Feuerholz, Wäsche, sah herumlungernde Hunde, auf einer Fensterbank saß eine dicke rote Katze und blinzelte in die Sonne. Ein Bild des Friedens und der Behaglichkeit.
    Das war nur ein Teil der Wahrheit. Die in hanseatischer Schlichtheit, doch teuer gekleidete und verschleierte Dame dort drüben, die sich gerade von einem ebenso eleganten Herrn – ihrem Gatten? – aus der Kutsche helfen ließ: Warum war sie verschleiert? Vielleicht schlug er sie, wenn sie allein waren. Vielleicht waren ihre Augen gerötet vor Gram, weil er seine Handelspartner betrog, vielleicht quälte ihn oder eines ihrer Kinder eine schwere Krankheit. Oder die junge Frau, die Federbälle und kleine Windräder als Knabenspiele feilbot – sie lachte, und der Singsang, mit dem sie ihre Ware anpries, klang heiter, womöglich war das nur eine Maske für den besseren Verkauf, und sie wusste kaum ihre Kinder zu ernähren, vielleicht drohte ihr wie vielen am Ende des Winters der Verlust ihrer Wohnung, und sie konnte bei dem allenthalben rasant steigenden Mietzins keine andere finden. Selbst die gemütlich schläfrige Katze – sie würde ohne Zögern und mit Genuss den Kanarienvogel verspeisen, der immer noch in einem der Fenster trillerte.
    Rosina schirmte mit der Hand die Sonne ab und ließ den suchenden Blick über die Fassaden gleiten, irgendwo dort musste der kleine Sänger sein. Hinter den Raboisen begann bald das düstere Jakobi-Gängeviertel, zur anderen Seite waren es nur wenige Schritte bis zum Stall für die städtischen Arbeitspferde unterhalb der Bastion Vincent. Die dazwischenliegende kurze Häuserreihe direkt gegenüber dem honorigen Drillhaus beherbergte einige wohlhabendere Familien. Von den oberen Etagen musste der Blick über die Alster wunderbar sein, und so nah an der weiten Wasserfläche war die Luft selbst an drückenden Sommertagen immer frisch. Im dritten Haus von der Ecke zum Neueweg wohnten die Paulis, dort hatte Magnus den Seidenhändler und Manufakteur getroffen, um seine Reise nach Venedig zu besprechen. Links daneben über der Sattlerwerkstatt wohnte ein Zuckermakler mit seiner zahlreichen Familie, glaubte sie sich zu erinnern.
    In dem Eckhaus zum Neueweg erschien just in diesem Moment an einem der Fenster im ersten Stock eine ganz in Grau gekleidete Frauengestalt, griff unwirsch nach dem Vogelbauer auf der Fensterbank, sodass der aufgeplusterte gelbbraune Sänger erschreckt aufflatterte.
    «Denkst du denn niemals nach, Felice?», rief sie streng. «Soll der Vogel im Zug erfrieren? Er hat deinen Vater Geld gekostet, das darfst du nicht verschwenden.»
    «Ach, Mademoiselle, er hat sich so nach der Sonne gesehnt. Da, wo er herkommt …» Rumms, war das Fenster geschlossen und

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