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Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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glitzern, als schwämmen Diamanten darin.
    Rosina stand im Ruf, eine vernünftige Person zu sein, doch für gewöhnlich wäre auch sie an einem solchen, wochenlang herbeigesehnten Frühlingstag in Schwärmerei verfallen. Heute nicht, sie zog nur unbehaglich die Schultern hoch, als sie über die Binnenalster zum jenseitigen Ufer blickte. Womöglich lag es an dem großen, zwei Innenhöfe umschließenden Werk-, Zucht- und Armenhaus und dem schräg gegenüber erbauten Spinnhaus, in dessen Schatten sie am Alsterufer stand. Sie war nie sicher gewesen, ob zumindest das erste und erheblich größere der beiden Häuser, zugleich Gefängnis und lebenslange Strafe für die einen, letzte Zuflucht vor dem Hungertod für andere, wirklich auch eine Art Obdach bedeuten konnte. Die hermetischen Mauern zeugten deutlicher als das prachtvolle Portal, worum es hier ging. Und dass eine ganze Anzahl von Waisen darin leben und aufwachsen musste, fand sie einen unerträglichen Gedanken. Das Tor zum Holzplatz war verschlossen, wenn dieses, das westliche, verschlossen war, würde das zweite geöffnet sein. Rasch lief sie die wenigen Schritte am Spinnhaus vorbei und dann die Raboisen hinunter.
    Sie war heute besonders früh erwacht (ausnahmsweise nicht mit dem Gedanken an Magnus), plötzlich gewiss, noch einmal die Stelle an der Alster sehen zu müssen, an der sie die Tote entdeckt hatte. Als sie Pauline beim Frühstück davon erzählte, hatte die ihre Fäuste in die Hüften gestemmt und streng geblickt, kaum anders, als sie Tobi ansah, wenn er versuchte, sich um eine Pflicht oder für die Schule zu erledigende Aufgabe zu drücken. Da liege kein Segen drauf, hatte sie geknurrt, so eine Stelle meide man, da gehe man nicht wieder hin, jedenfalls nicht, solange noch Eis auf dem Wasser sei. «Nein, da liegt gar kein Segen drauf, ist doch geradezu sündhaft, das Schicksal so rauszufordern, die Gegend heißt nicht umsonst Teufelsort.»
    «So abergläubisch kannst du gar nicht sein, Pauline», hatte Rosina gespottet. Im Übrigen sei es unmöglich, diese Stelle für den Rest ihres Lebens zu meiden, zum einen könne man dort Holz und Torf kaufen, zum anderen stehe direkt daneben das Drillhaus, wo es nach dem neuen Saal am Valentinskamp die besten Konzerte gebe. Doch sie verspreche, respektvollen Abstand zum Uferrand zu halten, gerade an einem Tag wie diesem, da das Tauwetter die Kante gewiss besonders rutschig mache.
    Sie hatte Pauline nur necken wollen, doch deren Augen hatten sich erschreckt geweitet, und es hatte einige Mühe gekostet, sie zu beruhigen. Pauline wirkte stets so robust, mit beiden Füßen fest auf der Erde, dass Rosina oft vergaß, ihre Sorgen ernst zu nehmen.
    Die Gasse war belebt, viele Fenster waren geöffnet, in einigen lagen schon Bettzeug und Winterkleidung zum Lüften, von irgendeinem Fensterbrett trillerte ein Kanarienvogel in tapferem Übermut gegen die hinter den Sonnenstrahlen lauernde Kälte. Nur noch ein paar Wochen, dann füllten sich die milden Abende und Nächte in den Alleen auf den Wällen und den Gärten und Gehölzen vor der Stadt wieder mit dem Gesang der Nachtigallen. Für einen Moment erlaubte Rosina ihren Gedanken, bei den stimmmächtigen Vögelchen zu verweilen, in der schönen Imagination, dann sei auch Magnus zurück. Schließlich hatte er versprochen, sie in diesem Frühsommer zu einer Kutschfahrt im Mondschein durch die Wandsbeker Gehölze zu begleiten, die Konzerte der Nachtigallen dort waren schon legendär. Deshalb stand leider zu befürchten, dass in einer solchen Nacht von trauter Zweisamkeit keine Rede sein konnte, sondern dass sich die Kutschen und Spaziergänger dort geradezu drängelten. Ein frischer, noch vom eisigen Wasser der Alster unangenehm temperierter Windstoß ließ sie idyllische Sommernächte umgehend vergessen, als sie das Ende der Raboisen erreichte und die Gasse sich zu dem Platz vor dem zweiten Tor und dem Drillhaus öffnete.
    Zwei jeweils von vier Ochsen gezogene, hoch mit Stammholz von den nördlich gelegenen Walddörfern beladene Fuhrwerke passierten gerade das weit geöffnete Tor. Vielleicht war Rosina tatsächlich in all den Jahren, die sie sich immer wieder in der Stadt aufgehalten hatten, in der sie nun ständig lebte, niemals hier, genau an dieser Stelle gewesen, ganz sicher hatte sie nie darauf geachtet, es hatte keinen Anlass dazu gegeben. Doch jetzt, während sie die Fuhrwerke passieren ließ, sicherheitshalber einen Schritt vor den dampfenden schweren Tierleibern

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