Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
war. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass Christian aus London zurückkehrte. Im vergangenen Jahr hatte sein älterer Sohn immer häufiger den Herrmanns’schen Platz an der Börse eingenommen, es machte ihm Vergnügen, und er erwies sich als geschickter Händler mit guter Nase. Warum also sollte Claes Herrmanns sich weiter um etwas bemühen, das er schon seit Jahrzehnten tat, immer noch gern, aber nicht mehr an jedem Tag? Das wahre, stetig neu auflodernde Feuer für seine Profession, das ein guter Großkaufmann brauchte wie ein Jäger, spürte er nur noch selten. Das erlebte er nun bei seinem Sohn und war es zufrieden.
Sie verstanden sich überhaupt gut, die beiden Herrmanns. Allgemein wurde es als generös und Zeichen tiefer väterlicher Liebe verstanden, wenn der Ältere dem Jüngeren schon so viel von seinem ureigensten Feld einräumte. Sein alter Freund Werner Bocholt hatte allerdings geargwöhnt, Herrmanns müsse schwer erkrankt sein, er hoffte, es betreffe nicht den Kopf.
«Das ist der reine Neid», konterte der lachend, «du mit deinen Töchtern bist eben arm dran. Keiner da, der dir ‹lästigen Kram› abnimmt.»
Bocholt lächelte schmal. Inzwischen gab es beste Aussicht auf einen im Handel schon erfahrenen Schwiegersohn, der ihm zukünftig einiges abnehmen konnte, aber ihm würden seine Geschäfte nie «lästiger Kram» werden. Auch war er kein Meister darin, in die Fähigkeiten anderer zu vertrauen, am wenigsten, wenn es um seinen Gewinn oder Verlust ging. Wie Herrmanns war Bocholt Großkaufmann, seine Geschäfte gingen weit, die ertragreichsten nach Frankreich und nach Osten und Norden, zudem fuhren nun vier Großsegler unter dem Namen seines Hauses. Risiko und Gewinn waren durch Parten reduziert, Besitzanteile von anderen Kaufleuten und Reedern, zu denen auch Claes Herrmanns gehörte. Bocholt zeigte es nicht gern, er war überzeugt, das bringe Unglück, aber er gehörte inzwischen zu den drei wohlhabendsten Kaufleuten der Stadt.
«Danke, Jensen», sagte Herrmanns, als der vor lauter Hast rotgesichtig schnaufende Wirt ihre Tassen auf den Tisch stellte, und schnupperte genüsslich am aufsteigenden Aroma von frisch gebrühtem Kaffee und Kardamom.
Bocholt hatte wie üblich Kaffee mit zerstoßenen Nelken und Mandelmilch vorgezogen, er rührte eine Prise Zucker hinein – Völlerei und Verschwendung waren ihm zum Kummer seiner seit fünfundzwanzig Jahren vom Wohlleben träumenden Gattin ein Graus – und beobachtete dabei mit hochgezogenen Brauen, wie sein zu einem gewissen Luxus neigender Freund gleich zwei gehäufte Löffelchen der süßen Kristalle verrührte.
«Ich möchte nochmal mit dir über die Pläne für das neue Waisenhaus reden», begann er endlich, «ich denke, da läuft einiges aus dem Ruder.»
«Kann schon sein.» Herrmanns war lieber mit der Überlegung beschäftigt, ob ein Gläschen Port jetzt genau das Richtige wäre.
«Was heißt ‹Kann schon sein›? Da müssen Entscheidungen getroffen werden.»
«Kann auch sein, alter Freund, aber nicht von mir.» Herrmanns nahm einen Schluck Kaffee, gab noch ein bisschen mehr Zucker dazu und rührte behutsam um. «Ich bin in dieser Sache nur ab und zu für eine Spende zuständig, die größeren gibt allerdings Augusta. Wie immer. Du weißt genau», schloss er mit Nachdruck, «dass ich nicht zum Provisor gewählt worden bin.»
«Nicht gewählt? Das ist zum Lachen! Du hast dich erfolgreich gedrückt, so war das. Ich frage lieber nicht, wie du das wieder gedeichselt hast und wie du diesen gerade zugezogenen Hegolt auf den Posten gehievt hast. Du kannst gerne grinsen, Claes, ich weiß, was ich weiß.»
«Du bist wie immer gut unterrichtet. Aber Hegolt ist doch eine tadellose Wahl, ehrgeizig, tüchtig, wach. Ein honoriger Mann und auch Familienvater. Gebildet, macht sich Gedanken – was wollen wir mehr?»
«Ehrgeizig, tüchtig, das stimmt wohl. Nehme ich an. Wie man hört, sogar sehr ehrgeizig. Trotzdem, Claes, er ist nicht von hier. Ich halte es für besser, wenn solche Ämter …»
«Ach was, Werner.» Claes schnitt ihm in plötzlicher Ungeduld die Rede ab. Manchmal fühlte er sich von Bocholts Engstirnigkeit enerviert. «Immer werden die Ämter unter den gleichen fünfzig oder von mir aus auch hundert Männern verteilt. Das ist ungesund. Und dieses ist nicht mal eines, das was einbringt, aus gutem Grund kann man diese Wahl nicht ablehnen. Es kostet nur Zeit und Mühe, also sollten wir froh sein. Und was heißt überhaupt neu zugezogen?
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