Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
noch nicht kräftig genug. So war er froh, dass sich dessen Reitlehrer aus dem Englischen Reitstall beim Gänsemarkt bereit erklärt hatte, tatsächlich mit größtem Vergnügen, da er selten ein Pferd solcher Qualität reiten konnte.
Hegolt durchschritt den vorderen Raum seines Kontors rasch, er nickte den Schreibern, dem Handelslehrling und dem Kontorboten zu, ohne – wie er es sonst zu tun pflegte – stehen zu bleiben und diesen Brief zu überprüfen, jene Bestellung zu korrigieren oder über eine geschäftliche Transaktion zu sprechen. Heute war er zu müde, und sein Kopf schmerzte, wie häufig in der letzten Zeit. Alles, was er tat, erschien ihm als anstrengend, fast alles. Sein Lebensplan hatte so klar vor ihm gelegen, nun lief doch nicht alles so, wie er es sich vorgestellt hatte. Es lag nicht an ihm, ihn traf keine Schuld, er handelte stets, wie er handeln musste. Er hatte nie daran geglaubt, es sei immer leicht.
Eigentlich wäre er nach der Börse gerne mit zu Jensen gegangen, doch es hatte ihn gleich zurück in sein Kontor gezogen. Er musste nachdenken, es waren Entscheidungen zu treffen, Pläne zu machen. Es konnte nur noch sehr wenige Tage dauern, bis die Elbe wieder ganz eisfrei war. Wären die Nächte nicht noch so außerordentlich kalt für den Märzmonat, hätte es mit dem Eis schon ein Ende.
Eine alte Bauernregel drängte sich in seine Gedanken: Aprilschnee bringt viel Gras und Klee. April!? Jetzt war März, und die Kälte hatte mehr als lange genug gedauert. Vielleicht war es doch falsch gewesen, hierher zurückzukehren, anstatt sich in wärmeren Gefilden niederzulassen? Nein, es war richtig gewesen, dies war eine gute Stadt, kaum eine in Europa war vielversprechender. Und gewiss keine, in der er so einfach hätte Fuß fassen können. Er hatte das Bürgerrecht, alles würde bald noch einfacher werden. Er brauchte unbedingt mehr Speicherraum, die Höhe der Mieten war eine Schande, er musste entscheiden, ob es möglich war, schon in diesem Jahr einen eigenen Speicher zu bauen. Oder zu kaufen? Entlang der Fleete war keine Handbreit mehr Platz für neue Bauten. So oder so – besser gleich einen Doppelspeicher, die Geschäfte würden weitergehen, wenn erst die amerikanischen Kolonien … Er wischte den Gedanken an die Zukunft fort und zwang sich, an das Heute zu denken.
Zuerst musste er für mehr Liegeplätze im neuen Holzhafen auf dem Großen Grasbrook sorgen. Nicht für die edlen Hölzer aus Übersee, insbesondere das Brasilholz und die Stämme von Campéche aus Yucatán und Mahagoni von den Westindischen Inseln, aber für die wachsende Menge die Elbe herabgeflößter Stämme stagnierte alles ohne mehr Liegeplätze.
Dabei durfte er sich keineswegs übernehmen oder die gerade erst geknüpften förderlichen Verbindungen gefährden. Immer wieder machten Handelshäuser auch aus Nachlässigkeit in solchen Dingen Bankrott, große wie kleine, diese Möglichkeit fürchtete er jedoch nur in Nachtmahren oder an sehr grauen Tagen. Er wurde im nächsten Herbst vierzig Jahre alt, er hatte Erfahrung und eine gute Nase für die Handelsgeschäfte, nun auch die richtigen Verbindungen, er war bisher erfolgreich gewesen, so würde es weitergehen. Auf seiner Oberlippe bildeten sich winzige Schweißtröpfchen, er wischte sie ab, schüttelte auch das leichte Frösteln zwischen den Schulterblättern weg und setzte sich an seinen Schreibtisch.
Alles würde gedeihen. Wirklich gut gedeihen. Er betrachtete wohlgefällig seinen großen Aktenschrank mit den offenen Fächern voller Abschriften der Korrespondenzen, Warenlisten und Verträge, daneben die Tresortruhe mit den Münzen verschiedener Währungen und den Wechseln, die darauf warteten, eingelöst oder als verlässliches Zahlungsmittel weitergereicht zu werden.
«Monsieur Hegolt?» Korf, sein Erster Schreiber, stand in der Tür, einen Brief in der Hand. «Der ist gekommen, während Ihr bei der Börse wart. Er sei eilig und solle nur von Euch geöffnet werden.»
Hegolt nahm den Brief und registrierte gutes Papier, darauf nur sein Name. Das Siegel war etwas verrutscht, er glaubte es dennoch zu erkennen. «Wer hat ihn gebracht?»
«Ein Bote, wie ich schon sagte. Ich kannte ihn nicht», Korf neigte dazu, ganz grundlos beleidigt zu sein, «niemand von uns.» Seine linke Augenbraue hob sich, was ihn unangemessen streng aussehen ließ. «Es gibt so viele, wir können unmöglich alle kennen.»
Hegolt hört ihm nicht wirklich zu. «Das erwartet auch niemand, lieber
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