Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Wagner sich und seine beiden Besucher nicht mehr mit langem Nachdenken und Abwägen aufgehalten und war mit den beiden schnurstracks den kurzen Weg gegangen. Wenn er die beiden genau betrachtete, konnte er sich nur schwer vorstellen, dass sie vor wenigen Tagen als schwarz gekleidete und verschleierte vornehme Dame und als eleganter Herr den armen Baldur im Eimbeck’schen Haus übertölpelt hatten.
Das Fuhrwerk mit seiner traurigen Fracht war nun verschwunden. Es war tatsächlich nur ein schlichter einspänniger Wagen, wie er für den Transport von Heu oder Stroh, von Torf – eben von nicht zu schweren oder umfänglichen Alltagssachen verwandt wurde. Er wurde von einem alten Zossen gezogen, der Prediger mochte ihn von einem seiner Bauern ausgeliehen haben.
Plötzlich fühlte Wagner etwas Überraschendes, nämlich Heiterkeit. Der Leichnam war fort, für seine Ermittlungen wurde er nicht mehr gebraucht, für die Vorführungen des Physikus? Vielleicht. Aber es war dem Weddemeister nur recht, wenn die Tote davor bewahrt wurde. Natürlich gab es Quacksalber, die aus den Leichenteilen hingerichteter Mörder wie auch aus denen gewaltvoll um ihr Leben gebrachter Opfer Wundermittel gegen alle nur denkbaren Gebrechen und Schicksalsschläge brauten, aber er war – warum auch immer – ganz sicher, dass Wilhelmine Cordes nicht zu denen gehörte, die einen Leichnam zu einem solchen, zudem heidnischen Zweck verkaufen.
Sie hatte mit der Toten mehr verbunden als eine zufällige, flüchtig gebliebene Bekanntschaft, obwohl sie das bei seiner Befragung im Hinterzimmer ihres Ladens abgestritten hatte, war er dessen sicher. Deshalb war ihm einerlei, ob der junge Mann mit den unfrommen Augen tatsächlich ein Prediger war – ob aus Moorfleet, Ochsenwerder oder sonst wo. Die Cordes würde dafür sorgen, dass ihre Freundin nach christlicher Sitte zur letzten Ruhe gebettet wurde. Wo auch immer. Im Übrigen fand er es höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Karla wartete längst auf ihn, und er war gespannt zu hören, was sie zu dieser Geschichte sagen werde.
Zumindest mit seinem Zweifel an dem Prediger von der Moorfleeter Kirche hatte Wagner recht. Der Wagen rollte nicht zum Deichtor aus der Stadt hinaus, wie es der direkte Weg nach dem Dorf auf dem Billewärder gewesen wäre. Stattdessen fuhr er über den Berg, an der St.-Petri- und der St.-Nikolai-Kirche vorbei, die Steinstraße entlang und zum Steintor hinaus, von dem jungen Mann im schwarzen Habit unter einem dicken wollenen Umhang gelenkt. Er und Wilhelmine nahmen vor dem Eschenkrug auf dem Borgesch einen weiteren Mitfahrer auf. Dann beeilten sie sich, das Lübsche Tor im Vorwerk zu passieren und geradewegs weiter nach Osten in die rasch nahende Dunkelheit zu fahren, während fast alle anderen, die noch unterwegs waren, sich ihrerseits beeilten, hinter die sicheren Mauern der Stadt zu gelangen, bevor die Tore für die Nacht verschlossen wurden.
Hätte Wagner das gesehen, hätte es ihn kaum überrascht, aber doch geärgert, weil er versäumt hatte, dem Wagen einen Spion nachzuschicken. Einen unauffälligen wie Grabbe, seinen Weddeknecht. Diese fabelhafte Idee kam ihm leider zu spät, nämlich erst als Karla ihn besorgt fragte, wohin der Wagen nur gefahren sein mochte, er könne Moorfleet keinesfalls mehr bei Tageslicht erreichen. Da war es zu spät. Leider nicht zum ersten Mal. Es kam immer wieder vor, dass Wagner die guten hilfreichen Maßnahmen just dann einfielen, wenn es keine Gelegenheit mehr gab, sie in die Tat umzusetzen. Er hatte sich oft vorgenommen, darüber nachzudenken, es konnte nicht wirklich schwer sein, das zu ändern. Bedauerlicherweise hatte er für solche theoretischen Gedankengänge bisher keine Zeit gefunden.
Als er zum gemütlichen Abschluss des Tages seine lange Tonpfeife stopfte, nahm er sich vor, gleich am nächsten Tag zu Wilhelmine Cordes zu gehen und sie streng zu befragen. Tränen hin, zitternde Lippen her – diesmal wollte er wirklich sehr streng sein, dann würde er schon erfahren, was er wissen wollte.
Auch dieser Gedanke sollte nur gute Theorie bleiben. Da er das noch nicht wissen konnte und weil er sich die Herausgabe des Leichnams als gute Tat anrechnete, schlief er in dieser Nacht ganz ausgezeichnet.
Am nächsten Morgen klopfte es in aller Herrgottsfrühe, nämlich kurz nach Sonnenaufgang, an der Tür des Rektors der Gelehrtenschule Johanneum. Als das Mädchen öffnete, stand niemand davor, und fast hätte sie den Brief übersehen, nur ein
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