Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
«wenn die so viele Stunden lernen sollen? Lernen die dabei überhaupt was? Was Nützliches? Die Menschen sind eben nicht gleich und haben auch nicht den gleichen Platz in der Welt. Jahrelang im Waisenhaus die Schulbank drücken, was soll das? Alle noch auf Kosten unserer Stiftungen zur Lateinschule und Pastor oder Syndikus werden, was? Überhaupt werden die Kinder im Waisenhaus viel zu spät an Arbeit gewöhnt, zu wenig sowieso. Da hat Meckpeter auch was Sinnvolles angeregt: Die Kinder sollen ja was lernen, aber nur abends. Dann können sie tagsüber arbeiten, richtig was schaffen, womit man die Kosten bezahlen kann. Kostet dann natürlich mehr Kerzen, aber im Sommer, da ist es lange hell.»
Claes Herrmanns blickte sich nach Jensen um, winkte, und der Wirt kam gleich heran. Er wusste, wer zu den in der Stadt bedeutenden Männern und großzügig konsumierenden Gästen gehörte. Eine Kombination, die ihm am liebsten war. Claes bestellte zweimal Portwein, winkte ab, als Bocholt abwehrend den Finger hob. «Auf meine Kasse», sagte er, und Bocholts Hand sank sofort herab. «Und nochmal zwei Kaffee, die gleichen wie immer», rief er Jensen nach, der sich, Entschuldigungen murmelnd, durch die Menge zum Schanktisch drängte.
«Wennschon – dennschon», sagte Claes heiter. «Ansonsten, mein Alter, finde ich , du solltest nicht darüber schwadronieren, wer sich um das Provisor-Amt drückt, sondern selbst eines annehmen. Jedes Jahr wird einer der acht neu gewählt. Oder sogar die Hälfte? Frag Augusta, die weiß es genau. Oder Hegolt», fügte er grinsend hinzu, «der weiß es sicher auch. Guck mal», er hatte nun genug von dem unerfreulichen Waisenhaus-Thema und seinen Blick hinausschweifen lassen. «Ist das nicht Pauli? Da drüben, der mit dem violetten Rock, er kauft bei der Vierländerin gerade einen Schneeglöckchenstrauß. Hübsches junges Ding, das muss man sagen. Pauli hat ein Auge für so was.»
Bocholt hatte für gewöhnlich Augen für andere Dinge, wohlgefüllte Säcke und Fässer, stabile, schnelle Schiffe, solide Wohnhäuser und Speicher, die guten Mietzins einbrachten, auch kostbare, immer gut verkäufliche Pelze und Edelsteine, Dinge in der Art. Er hatte sich dennoch neugierig vorgebeugt.
«Ja, das ist er. Ich habe ihn heute gar nicht in der Börse gesehen. Na ja, als Seidenhändler und -manufakteur hat er da ja nicht alle Tage zu tun. Mit wem steht er da? Hat er einen neuen Kutscher?»
Der Mann, der mit unbewegter Miene neben Pauli wartete, hielt eine Peitsche in der Rechten, wie sie manche Kutscher und Fuhrleute benutzten. Seine grobe Joppe hätte selbst Bocholt, der für die Kleider der Dienstboten anderer Leute kein Auge hatte, sagen müssen, dass der Mann mit dem strohigen, fast weißblonden Haar unter dem unförmigen alten Hut und den staubigen Hosen aus grobem Stoff keinesfalls zum Haus der Paulis gehören konnte.
Claes verkniff sich ein Lächeln. «Paulis Kutscher solltest du mal sehen, mein Lieber! Der wäre selbst für einen Fürsten gut. Der Kerl repräsentiert sein Haus, sagt Pauli. Keine dumme Idee, was? Auf dem Kutschbock ist er tatsächlich von jedermann zu sehen. Nein, das ist der Aufseher vom Holzplatz auf dem Borgesch. Kennst du den nicht? Er ist auch oft im Holzhafen, da hast du doch auch zu tun. Schroffer Geselle, aber zuverlässig. Hillmer, jetzt fällt es mir wieder ein, er heißt Pieter Hillmer. Ich hab gehört, er hat was mit der Schankmagd da draußen, im Eschenkrug , er will sie sogar heiraten. Schlaue Idee, die ist eine tüchtige Person, appetitlich und nicht dumm.»
«Was du alles weißt.» Bocholt ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen, gerade rechtzeitig, als der Wirt mit der zweiten Runde Kaffee und dem Portwein kam. Der neue Genuss ließ ihn vergessen, dass er noch hatte fragen wollen, ob Claes neuerdings das Küchenpersonal belauschte.
Ansgar Hegolt war müde, er bekam in diesen Wochen einfach zu wenig Schlaf. Es wäre gut und erholsam, hin und wieder auszureiten, wie er es früher häufig getan hatte. Er war ein leidenschaftlicher und guter Reiter, im Stall bei der Bastion Vincent stand sein Reitpferd, ein nobler Rappe aus einer irischen Züchtung mit einer Blesse auf der Stirn. Es war eine luxuriöse Anschaffung gewesen, in einem Moment der Schwäche, wie er sich eingestand, aber er hatte es nie bereut. In der letzten Zeit kam er viel zu selten dazu, es selbst zu bewegen. Seinem Sohn konnte er das starke, zur Nervosität neigende Tier nicht anvertrauen, Emanuel war
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