Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Marret den Seehund zurückgegeben habe, da hat er’s doch noch gemerkt.»
Sie blieb stehen, sofort begann ein Zitronenverkäufer, ihr seine Ware anzupreisen, und ein alter Mann mit einer Kiepe voller Teller und Schalen, allesamt bestes, glasiertes Steinzeug aus dem Holsteinischen, versuchte ihn in der Lobpreisung seiner Ware zu übertrumpfen. Rosina beachtete weder den einen noch den anderen, sah wie taub für ihr Werben einfach durch sie hindurch, bis sie sich mürrisch nach anderer Kundschaft umsahen.
Er hat es doch noch bemerkt! Sie sah die Szene vor sich, als stehe sie bei einer Theateraufführung in den Kulissen, nah genug am Geschehen, um Schminke und Schweiß zu riechen. Was sie sah, gefiel ihr überhaupt nicht: Tobi zog dem Jungen die kleine Holzfigur so geschickt aus der Jackentasche, dass der es nicht spürte. Das wiederum hieß, Tobi war – ein geübter Taschendieb, er … Halt! Das hieß es nicht . Es hieß nur, dass er es konnte . Und dass er es einmal getan hatte, einmal, um, nun ja, um Gerechtigkeit walten zu lassen.
Sie hatte die Reesendammbrücke nahe der Wasserkunst erreicht, vor ihr lagen der breite Jungfernstieg, zugleich Fahrstraße und Promenade, entlang der zum See gestauten eisbedeckten Alster im hellen Vormittagslicht. Nach dem Weg durch enge, noch nicht von der Sonne erreichte Straßen fühlte sie sich geblendet und zugleich aus ihrer Bühnenvision befreit. Sie stand inmitten des morgendlich-städtischen Trubels, hörte das Geschrei der Straßenverkäufer und Fuhrleute, das Rattern der Wagen und Kutschen, sah Menschen in Seide und Menschen in Lumpen, auch Kinder mit nackten frostroten Füßen in alten Holzpantinen, Hausfrauen, Köchinnen und Mägde mit großen Körben von ihren Einkäufen heimeilen, eine zweispännige schwarze Kutsche mit dem Wappen des English Court und wusste, irgendwo in diesem Gewusel gingen auch Taschendiebe ihrer Arbeit nach. Es gab keine Stadt ohne Taschendiebe. Sie war weit genug herumgekommen, um das zu wissen. Zumindest in großen Städten gab es ganze, strikt organisierte Banden, auch extra dazu ausgebildete Kinder, deren flinke dünne Finger leichter in fremde Taschen glitten und unbemerkt eine Münze oder ein teures Spitzentuch herauszogen, die rascher in der Menge untertauchen konnten, auch leichter zu beherrschen und zu dressieren waren.
Rosina hatte von dem Gerücht gehört, nach dem Hamburger Waisenhauskinder von zwei älteren Zöglingen eine solche Ausbildung erfahren hatten, bis das ruchlose Unternehmen aufflog und die «Lehrer» dieser Fertigkeiten ins Werk- und Zuchthaus umziehen mussten. Sie hatte es als dummen Klatsch abgetan. Die Geschichte – wenn sie doch stimmte – war einige Jahre alt, und da die Kinder, sofern sie nicht in Koststellen lebten, das Waisenhaus nur äußerst selten und fast niemals alleine verlassen durften, hatten sie sowieso keine Gelegenheit gehabt, ihre unredliche Kunst an braven Bürgern der Stadt auszuprobieren. Wenn aber Tobi sich so gut darauf verstand, konnte er es nur im Waisenhaus gelernt haben. Vielleicht gab dort irgendjemand das vor Jahren Geübte weiter, sei es nur zur Abwechselung von all dem Lernen, Beten und Arbeiten, das die Tage der Kinder ausfüllte.
Von Tobi würde sie darüber nichts erfahren. Wenn sie ihn nach seinem Leben im Waisenhaus fragte oder ob er die Gesellschaft der vielen Kinder vermisste, hörte sie stets nur ein rasches Nein, bevor er eifrig von etwas anderem zu sprechen begann oder ihm just in diesem Moment einfiel, dass noch eine seiner Pflichten zu erledigen war.
«Seid Ihr heute besonders mutig oder nur leichtsinnig, Madam?»
Ein um die Taille leicht zur Fülle neigender Herr von etwa fünfzig Jahren stand vor Rosina und blickte mit gehobenen Brauen auf den Schlittschuh, den sie gerade aus dem Beutel gezogen hatte. Sein Haar war nach der Mode im Nacken zusammengefasst, über den Ohren in akkurate Doppelrollen gesteckt und sorgfältig gepudert, der Dreispitz klemmte unter dem Arm, sein Umhang aus fester schwarzer Wolle war über einer Schulter zurückgeschlagen und gab einen leuchtend blauen Rock über einer silbergrauen, mit schwarzen Blüten bestickten Weste frei, seine makellos weiße Halsbinde war dezent spitzengesäumt.
Rosina staunte. Der verehrteste Dichter der Stadt, womöglich der deutschsprachigen Länder, Dänemark ausnahmsweise eingeschlossen, war bekannt für seinen freien, um nicht zu sagen nachlässigen Umgang mit bürgerlicher oder gar adeliger Etikette, so
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