Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Schiff angeheuert, das vor der afrikanischen Goldküste mit Mann und Maus untergegangen sei. Manche sagten: als Gottesstrafe, denn der Kahn hatte menschliche Fracht an Bord gehabt, schwarze Sklaven für die Plantagen auf den Westindischen Inseln. Was wiederum andere, die nichts gegen den Sklavenhandel hatten, als Unsinn abtaten und behaupteten, der Kerl habe sich gleich wieder aus dem Staub gemacht, als er im Hamburger Hafen ankam und hörte, seine Frau sei tot und das Balg von deren verschollenen Verwandten brauche Brot und Herberge.
So war Tobi im Waisenhaus gelandet und geblieben, womit er noch einmal Glück gehabt hatte. Er hätte auch ausgesetzt in der Gosse sterben oder an widerwärtige Männer verkauft werden können. Er hatte – vielleicht – auch Glück gehabt, dass er trotz seines geringen Alters gleich im Waisenhaus am Rödingsmarkt Aufnahme gefunden hatte und nicht für die nächsten Jahre in eine Koststelle gegeben wurde, wie es bei Kindern bis zu ihrem mindestens vierten Lebensjahr das Gewöhnliche war. Es schien, als habe ein unbekannter Gönner seine Hand über ihn gehalten.
Im Waisenhaus war die Chance größer, die frühen Kinderjahre zu überleben. So wurde jedenfalls gesagt. Rosina wusste nicht, ob es stimmte. Auch im Waisenhaus starben Kinder, nicht ganz so viele wie in den Armenvierteln, böse Zungen behaupteten, auch nicht so viele wie in den reichen Häusern, wo teuer bezahlte Ärzte so manches Kind zu Tode kurierten.
So oder so – als Tobi den Kopf zwischen die Schultern zog und seine Augen sich erschreckt weiteten, hatte sie sofort gedacht, er habe die Prügel bezogen, weil er tatsächlich etwas gestohlen hatte. Das fühlte sich nun an wie Verrat. Es hatte ein bisschen gedauert, bis alle, die da in der Diele streng auf seinen gebeugten rostroten Schopf hinabsahen, seine Geschichte verstanden. Zum ersten Mal hatte sie ein Zittern in seiner sonst so munteren Stimme gehört und begriffen, dass sie kein Schuldgefühl in seinem Gesicht erkannt hatte, sondern Angst.
Er hatte tatsächlich etwas «stibitzt», so hatte er es ausgedrückt, nämlich einen kleinen hölzernen Seehund, den die beiden Größeren wiederum kurz zuvor einem Mädchen weggenommen hatten. Marret besuchte wie Tobi die Katharinenschule, und ihre Nähe ließ sein kleines Herz schneller schlagen. Gestohlen war auch in diesem Fall ein zu großes Wort, denn einer der Jungen war der ältere Bruder des Mädchens. Aber als sie weinte, hatte Tobi das hölzerne Spielzeug zurückgeholt und der Besitzerin zurückgegeben, und dann, ja, und dann hatte der Bruder es bemerkt, und die Prügelei war losgegangen. Bis Claes Herrmanns gekommen war und ihn aus diesem Knäuel von Armen und Beinen und dünnen Jungenkörpern herausgezogen hatte. Was Tobi sicher nicht bedauerte. Selbst wenn es nur um irgendeine Ehre gegangen wäre, war die Aussicht, halbwegs siegreich aus einer Prügelei hervorzugehen, gleich null, wenn die Kontrahenten in der Überzahl und mindestens einen Kopf größer waren.
Der Junge war verliebt, ein gefährlicher Zustand, da er leicht zu falschen Entscheidungen verführte, dachte Rosina, als sie am St.-Johannis-Kloster vorbeieilte und dem betörenden Duft frischer Zimtkringel aus dem Korb einer Straßenverkäuferin widerstand. Dass es einen weiteren Grund gab, warum er sich mit seinen dünnen Fäusten auf die beiden größeren Jungen gestürzt hatte, hatte er erst erzählt, als die Herren Zacher, Hegolt und Herrmanns gegangen waren, als er in eine Decke gewickelt auf seinem Lieblingsplatz neben dem Küchenfeuer hockte und seine verschrammten Hände – vielleicht auch seine wunde Seele – an einem Becher dampfender Honigmilch wärmte. Die beiden Jungen hatten ihn verspottet und ihm Schmähungen zugerufen, mit denen Waisen verhöhnt und verächtlich gemacht wurden, auch noch, als sie schon aufeinander einprügelten. Das hatte Claes Herrmanns gehört und deshalb nicht ganz falsch angenommen, der Kampf sei um die Ehre gegangen. Tobi war über die Maßen wütend gewesen, zugleich hatte er sich geschämt, wie es Unterlegene und Opfer fälschlicherweise oft tun.
Wenn sie zurückkam und er sich im Schlaf von Schrecken und Schmach erholt hatte, wollte sie versuchen, mit ihm darüber zu sprechen. Und auf dem Rückweg würde sie doch einen Zimtkringel kaufen. Tobi brauchte eine Belohnung für seinen Mut, wenn es auch nicht sehr schlau gewesen war, sich in diese ungleiche Schulhofschlacht zu stürzen.
Wie hatte er gesagt? «Als ich
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