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Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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hatte ihre neuen Nachbarn noch nie mit Herablassung behandelt, insbesondere diese neue Nachbarin mit der seltsamen Vergangenheit. Rosina wollte, dass es so blieb.
    Sie drängte sich an einem mit Fässern beladenen Fuhrwerk und zwei Frauen mit schweren Reisigbündeln auf den Rücken vorbei, dann gab sie alle Versuche zur Eile auf und ließ sich mit dem Menschenstrom über die Holzbrücke zum Hopfenmarkt treiben. Auf dem weiten Platz um St. Nikolai war endlich wieder genug Raum, dass sie ihr Tempo selbst bestimmen konnte, und sie eilte, so flink es die gute Sitte erlaubte, durch die breiteren Straßen weiter. Sie fühlte sich befreit, die Eile der Füße, des ganzen Körpers, die Frische der Luft – alles löste die Anspannung der letzten Stunde.
    Sie hatte nicht gehen wollen, erst als Pauline knurrte, der Junge schlafe doch nun und in der Küche störe sie bloß, hatte sie ihr blassblaues Hauskleid aus dünner englischer Wolle abgelegt und das doppelt gesteppte Burgunderfarbene angezogen, ihren Beutel mit den Schlittschuhen genommen und sich auf den Weg gemacht. Anstelle des geliebten Muffs aus weißem Kaninchenfell hatte sie Handschuhe eingesteckt. Sie wollte eislaufen, eistanzen genau genommen, die Arme weit ausbreiten und übers Eis fliegen, vielleicht zum letzten Mal in diesem Jahr; der Frühling war nicht mehr aufzuhalten und das Eis sicher schon jetzt nicht mehr so dick wie noch vor einer Woche.
    Wie hatte sie nur wie diese drei honorigen Bürger glauben können, Tobi habe gestohlen? Sie verstand, wenn Menschen aus Not zu Dieben wurden. Wenn sie auch nicht wusste, was echte Hoffnungslosigkeit bedeutete, so hatte sie Hunger kennengelernt. Sie wusste auch sehr genau, dass die Bürger arme Menschen wie auch die Fahrenden, die Nichtsesshaften, ständig der Unmoral und Dieberei verdächtigten, wenn es sich gerade so ergab, auch ohne jeden Beweis des Mordes. Weil sie Fremde oder tatsächlich bettelarm waren. Sie wäre sich gerne in aufrechter Empörung ergangen, doch das wäre bigott gewesen. Natürlich war jemand, der nichts hatte, oft nicht einmal genug, um auch nur annähernd satt zu werden, schneller in Versuchung zu stehlen. Und mancher, der keine Hoffnung hatte, sein Elend je überwinden zu können, verlegte sich leicht aufs Stehlen. Darauf mochte herabsehen, wer jeden Tag satt wurde, eine warme Stube und reine, sogar im Winter wärmende Kleider hatte.
    Tobi hatte bei allem Unglück, das er in seinem kurzen Leben schon erfahren hatte, doch Glück gehabt, nämlich immer ein Dach über dem Kopf, Kleidung, sogar Schuhe, und an jedem Tag zu essen. Das war mehr, als viele seiner Altersgenossen in der Stadt hatten. Er hatte nie gestohlen, warum sollte er es jetzt getan haben? Warum sollte man ihm und seiner Ehrlichkeit misstrauen?
    Sein einziger Makel war womöglich seine Herkunft, von der Rosina wenig wusste. Die ersten drei Jahre seines Lebens hatte er bei einer Tante in einer abseits gelegenen, äußerst ärmlichen Kate außerhalb der Stadt bei der Sternschanze verbracht. Ihr Mann fuhr zur See, seine Reisen gingen weit, also musste sie sich mehr oder weniger alleine durchschlagen. Wie ihr das gelungen war, auf welche Weise, wusste Rosina nicht. Sie war eine sonderbare Person gewesen, ohne Familie, eigenbrötlerisch und schroff, in das Kind jedoch ganz vernarrt.
    Über seine Eltern war nichts bekannt. Als diese Tante plötzlich starb, an irgendeinem Fieber, wie es oft vorkam, war niemand da, der sich seiner annehmen wollte oder konnte. In ihrer Truhe hatte sich ein Notgroschen gefunden, dazu ein gefalteter Bogen, auf dem in ungelenker Schrift stand, das Geld sei für Tobias Rapp, ihr Schwesterkind, er sei ehelich geboren und im August anno 1762 getauft. Leider fehlte ein Taufschein, auch waren weder Ort noch Kirche oder die Namen der Eltern vermerkt. Auch der Vatername des Kindes war auf dem in Feuchtigkeit gelegenen Papier nur schwer leserlich gewesen. Der Argwohn, es handelte sich bei diesem Rotschopf mit dem Schielauge womöglich um ein irgendwo aufgelesenes Findelkind und die Angaben auf dem Papier seien alle erfunden, war groß gewesen. Man hatte sich auf Rapp geeinigt und ihn zur Sicherheit seines Seelenheils noch einmal getauft. Der bescheidene Geldbetrag war für Tobias’ Unterhalt dem Waisenhaus übergeben worden, wie es der für jedermann einsichtige Usus war.
    Der Seemann und einzige bekannte Verwandte tauchte nicht mehr auf. Im Hafen hatte jemand dem Wasserschout erzählt, er habe in Bristol auf einem

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