Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
dieses verräterische Knacken hört, bleibt nicht stehen, bremst nicht einmal den Lauf, sondern beeilt Euch. Fliegt aufs nächste Ufer zu, so rasch Ihr könnt. Ach», seufzte er, «wie gerne würde ich Euch begleiten. Es wird für diesen Winter die letzte Gelegenheit sein, aber …» Er hob bedauernd Schultern und Hände und murmelte im Fortgehen etwas, das Rosina vermuten ließ, der Dichter werde von dem Abgesandten eines Markgrafen erwartet. Rosina sah ihm nach, wie er davonstapfte, bemüht, die dicksten Matsch- und Kothaufen zu meiden.
Über die Alster sausten drei Jungen, trieben mit gebogenen Ästen oder umgedrehten Gehstöcken einen runden Stein vor sich her und kämpften darum, wer als Nächster mit dem Schlag an der Reihe war. Sie flogen nur so übers Eis, duckten sich unter der hölzernen Brücke bei der Mühle und dem Lombardhaus und verschwanden hinaus auf den äußeren Alstersee.
Der Anblick der Jungen war überzeugender als Klopstocks Mahnung. Wenn es die letzte Gelegenheit war, bevor das Eis zu brüchig wurde – dann erst recht. Sie war nicht die Einzige, etwa ein Dutzend Menschen zogen noch ihre Bahnen, darunter auch zwei Frauen mit wehenden Röcken, oder kürzten den langen Weg um die Alster ab, indem sie den See auf dem Eis überquerten.
So band Rosina ihre Röcke hoch, anderthalb Handbreit, mehr würde nur wieder zum Stadtgespräch werden. Wie im Januar, als sie in Männerkleidern aufs Eis gegangen und so dumm – manche hatten gesagt: schamlos – gewesen war zu glauben, niemand werde sie in ihrer Verkleidung erkennen. Die Camouflage hatte sich trotzdem gelohnt. Ohne Mieder und die hinderlichen Röcke übers Eis zu sausen und zu tanzen hatte das berauschende Gefühl erst perfekt gemacht. Danach hatte sie vergeblich auf eine klare Vollmondnacht gehofft, hell genug für das nächtliche Schlittschuhvergnügen, dunkel genug, sie nicht zu erkennen, selbst wenn das geheimnisvolle Mondlicht stets viele aufs Eis lockte.
«Los, Madam», murmelte sie, «aufs Eis!» Nicht alle Winter ließen Flüsse und Seen für Wochen zufrieren, dieser hatte reichlich Gelegenheit zum Eislauf geboten. Bei aller Freude über den beginnenden Frühling würde sie es vermissen.
Sie schnallte die Schlittschuhe an ihren Männerschuhen gleichenden Stiefeletten fest, und dann, endlich, fühlte sie es, dieses Glück des Dahingleitens, schneller und leichter, noch schneller, alle Gedanken lösten sich auf. Körper, Geist und Seele – leicht wie im Flug. Quer über den See ging es, vorbei an Malthus’ Garten und weiter bis zur Einmündung des Kalkhofkanals, hier stand schon Wasser auf dem Eis, rasch weiter, zurück in die Mitte, wo es fest war, wie im Tanz mit ausgebreiteten Armen, so sauste sie voran, gleich einem Segelschiff vor dem Wind. Das war das pure Glück. Nur flüchtig haftete ihr Blick an der ganz in graue Wolle gekleideten Frau mit weit in die Stirn gezogener Kapuze und dem Mädchen, das sie in einem Stuhlschlitten vor sich her zurück zum Ufer schob.
« Plus vite », rief das Kind. «Bitte, Mademoiselle. Schneller.»
Rosina kannte das Mädchen, wenn sie auch nicht sicher wusste, zu welcher Familie es gehörte. Ihre Beine waren verkrüppelt, sie hatte niemals springen und rennen können wie andere Kinder, auch auf keinen Baum klettern, auf keinem Mäuerchen balancieren. Für sie musste die rasche Fahrt über das Eis erst recht ein großes Glück bedeuten.
Rosina sah noch dem Kind und der viel zu langsamen Gouvernante nach, die schon das Ufer erreichten, da hörte sie es.
Es knackte.
Nicht zart und flüsternd, wie große Eisflächen immer wieder knistern, sondern peitschend und knarrend, aufbegehrend. Drohend. Das Geräusch drängte sich durch den an ihren Ohren rauschenden Wind, alarmierte ihren Körper noch vor ihrem Verstand, und schon hielten ihre Füße auf das nächstliegende Ufer zu, das Holzlager beim Drillhaus. Sie flog über reißendes Eis, glaubte ein Schwanken unter ihren Füßen zu fühlen, hörte Rufe, ihren Namen?, und sah das Kantholz zu spät, sah zu spät das Wasser. Sie fiel und rutschte. Die Röcke, dachte sie sinnlos, wie praktisch sind die wattierten Röcke im Fall, rutschte weiter übers wässerige Eis, und just als die nassen Kleider sie kurz vor dem rettenden Ufer bremsten, zogen sie kräftige Hände die letzten Zoll auf die Uferböschung. Und in Sicherheit.
Benommen und atemlos keuchend, hockte sie am Ufer und sah auf ihre verschrammten Handballen. «Wie Tobi», murmelte sie, «wie
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