Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
seufzen lassen, sogar Henning, den Diener, der Seufzen für unmännlich hielt. Darin folgte er wie übrigens in nahezu allem den Ansichten seines Herrn. Für weitere Fragen an das vorwitzige Mädchen war keine Zeit geblieben, weil in dem Moment die Stimmen der Kinder auf der Treppe zu hören waren, was hieß, dass auch Mlle. Meyberg herabstieg. Sie war als einziger der dienstbaren Geister des Hauses nicht in den unerhörten Akt der Neugier eingeweiht gewesen, was gute Gründe hatte.
Heute schloss Alberte die Tür zu Madam Hegolts Kammer so behutsam wie möglich. Seit einigen Tagen, genau genommen während der letzten anderthalb Wochen, dachte sie immer daran. Im ganzen Haus herrschte eine bedrückte Stille. Selbst Felice, Georgine und Emanuel, bis dahin nach Kinderart laut und fröhlich, waren kaum mehr zu hören. Inzwischen glaubten sie genauso wenig wie die Erwachsenen, ihre Mutter sei «nur ein wenig unpässlich».
Madam Hegolt kränkelte schon seit Wochen. Niemand wusste genau, wann es begonnen hatte, und zuerst war auch niemand ernstlich besorgt gewesen. Sie hatte stets eine starke Natur bewiesen, die Geburten gut überstanden, auch die Kinder hatten überlebt. Felices schwache Beine – das war tatsächlich ein Schicksalsschlag. Eine göttliche Prüfung womöglich? Jede Familie hat eine Last zu tragen, und zum Glück hatte es nicht Emanuel getroffen, den bisher einzigen Sohn und Erben. Dem allerdings hatte nicht Ina, sondern die erste Madam Hegolt das Leben geschenkt. Sie hatte die Strapazen der schrecklich schweren Geburt nicht überstanden und war nach einem viermonatigen quälenden Siechtum gestorben.
Im Übrigen war Winter gewesen, mit der kalten Jahreszeit würde auch das Unwohlsein der Hausherrin vergehen. Doch dann wurden die Tage länger, der Himmel höher und Ina Hegolt leidender. Mal quälte sie Übelkeit, mal waren es Kopf- und Gliederschmerzen, an diesem Tag mehr, an jenem weniger. Obwohl es immer wieder Tage gab, an denen sie sich recht wohl fühlte, konnte sie das Bett schließlich kaum noch verlassen. Ärzte kamen, auch der Ratsapotheker, der als der Beste seiner Zunft in der Stadt galt, keiner von ihnen machte Madam Ina gesund.
Die Schlafkammer war nur auf den ersten Blick bescheiden eingerichtet. Hinter der Tür gegenüber dem Bett verbarg sich ein schmales, gut gefülltes Kleiderzimmer, deshalb fehlte der Schrank. Die Kommode mit den vier Schubladen war bis auf die elegant geschnitzten Füße schnörkellos, aber von besonders schönem Wurzelholz, die darüber hängenden Gemälde aus der Mode und deshalb nicht wirklich kostbar, aber von einem der besten alten holländischen Meister in allerfeinster Manier gearbeitet. Dass gleich darunter drei Aquarelle von kindlich unbeholfener Hand hingen, zeugte von Liebe und Heiterkeit. Die halb geschlossenen Vorhänge vor den beiden Fenstern waren vom gleichen goldschimmernden maronenfarbenen Stoff wie die des Bettes.
Die Luft im Zimmer war stickig. Es roch wohl nach Lavendel, Melisse, Pomeranzen, nach Kampfer auch, doch alles wurde von dem Geruch nach Krankheit überlagert. Alberte hätte gerne das Fenster aufgemacht. Die Ärzte hatten es verboten, die Märzluft sei «zu beweglich», sie werde der Kranken nur schaden. Sie hingegen fand, in einem Zimmer voller solch unguter Dämpfe mussten selbst bis dahin völlig Gesunde krank werden. Doch wer war und was wusste sie, den Anweisungen der studierten Doktores zuwiderzuhandeln.
Ina Hegolt lehnte mit geschlossenen Augen gegen ihre Kissen, in der Hand noch ein aufgeschlagenes Buch. Sie war von durchscheinender Blässe, unter ihren Augen schimmerten bläuliche Schatten. Sie war nie eine blendende Schönheit gewesen, ihr Gesicht war angenehm und spiegelte diese Art von Sanftmut, Freundlichkeit und Bescheidenheit, die ein Frauengesicht in den Augen der Männer anziehend macht. Jedenfalls heiratswillige Männer, wer Rausch und Abenteuer suchte, übersah es. Albertes Kummer wurde zum Jammer, Madam Hegolt war immer eine so fröhliche Person gewesen, nie schwächlich oder leidend, nie bequem oder zimperlich. Und nun?
Sie schlug die Augen auf, ein Lächeln belebte ihr Gesicht. «Alberte», sagte sie und bemühte sich, laut und munter zu sprechen, «Alberte, wie schön, dass du da bist. Ich will sündigen, und du musst mir helfen.» Sie richtete sich auf und blickte hinter den dunklen Bettvorhängen hinaus ins Licht. «Öffne die Fenster, Alberte, ich bitte dich. Egal, was die klugen Herren Doktores sagen.
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