Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
wollte. Ich lebe nämlich noch, Mademoiselle», sagte sie mit plötzlicher Schärfe, «und der Gesang der Vögel heitert mich auf.»
Dann war ihre Kraft für diese Stunde verbraucht, sie sank tiefer in ihre Kissen und nickte Alberte zum Abschied vertraulich zu.
Alberte war mit ihrem Leben als Köchin in einem halbwegs wohlhabenden Haus stets hochzufrieden gewesen. Sie liebte ihre Arbeit mit der Vielfalt der Möglichkeiten, die das Budget hier erlaubte, sie hatte es immer warm, immer genug zu essen, stets reine Kleidung und in diesem Haus sogar den Luxus einer Kammer für sich allein. In der wohlausgestatteten Küche im Souterrain regierte sie wie über ein eigenes Reich. Nun wünschte sie sich zum ersten Mal eine bedeutendere Stellung, nur um diese blasierte Person in ihre Schranken zu weisen. Aber so war es nicht, sie hatte zu gehen. Sie drehte sich noch einmal zu Madam Hegolt um und formte mit den Lippen: «Morgen, ich komme morgen wieder.» Im Hinausgehen bemerkte sie mit großer Befriedigung, dass diese dumme Gouvernante mit hochrotem Kopf und fest ineinandergepressten Händen zurückblieb.
Sie ließ die Tür mit einem lauten Rumms ins Schloss fallen. Madam Hegolt würde es nicht als Störung, sondern als Botschaft verstehen: Sie war mit diesem Zerberus nicht allein.
So ging es nun schon seit etlichen Tagen. Mlle. Meyberg war nur Felices Gouvernante und zugleich Kinderfrau der um anderthalb Jahre jüngeren Georgine, doch in den letzten Wochen hatte sie immer mehr Aufgaben übernommen, schließlich auch die völlige Betreuung der Kranken. Monsieur Hegolt hatte allen im Haus verkündet, seine Frau bedürfe absoluter Schonung, Mademoiselle sei in der Pflege kranker Menschen erfahren, ihre Anordnungen hätten nun dieselbe Gültigkeit wie seine.
Man sah ihm die tiefe Sorge um seine Frau an. Er wachte Nacht für Nacht an ihrem Bett, manchmal hörte Alberte bis in ihre Kammer unter dem Dach, wie er noch rastlos auf und ab ging, wenn längst die ganze Stadt im Schlummer lag. Er musste sich sehr allein fühlen. Weder er noch seine Frau hatten Verwandte, zumindest hatten Alberte und auch die anderen Dienstboten nie von welchen gehört. Es kam auch niemand angereist, obwohl die Kranke doch so dringend Trost und Beistand einer Schwester, Tante oder Base brauchte. Seltsam fand Alberte, dass auch keine der Damen in der Stadt sich in dieser schweren Zeit als Freundin erwies. Jedenfalls nicht mehr. Zu Anfang war die eine oder andere zu Besuch gekommen, dann immer weniger und in immer größeren Abständen, bis keine mehr kam. Alberte hätte gerne gewusst, warum. Es konnte nur an der Krankheit liegen, an der Nähe zu Tod und Verwesung, an die jede schwere Krankheit gemahnte.
Nun saß also Tag für Tag die Erzieherin der Töchter am Bett der Kranken. Sie war in den Zwanzigern, ihre Hoffnung auf eine respektable, behaglich versorgende Ehe war gewiss drängend. Mit der noch zarten weißen Haut unter dem dunklen Haar und den tiefblauen Augen, der schlanken, die zur Rundlichkeit neigende Alberte fand allerdings zu schlanke Figur, recht ansehnlich. Sie war halbwegs gebildet, sprach Französisch, wie es sich für ihre Profession gehörte, auch ein wenig Englisch, sie lehrte die Mädchen den Umgang mit Pinsel und Farbe und spielte auch auf dem neuen Klavichord, leider wenig seelenvoll, denn ihr Anschlag war zu kräftig und wenig variabel. Vielleicht lag es auch an ihrer Seele.
Dass sie an diesem Morgen mit Felice eine Ausfahrt unternommen hatte, war in der letzten Zeit eine Ausnahme. Madam hatte alle Kräfte gesammelt, um dieser Anordnung so viel Nachdruck zu verleihen, dass die Gouvernante folgen musste. Manchmal, insbesondere während der letzten Tage, schien es Alberte, als wache diese Meyberg-Person (die sie von Anfang an nicht hatte leiden können) mit ihrem Raubvogelblick weniger über Madams Wohlergehen als darüber, dass niemand der Hausherrin nahe kam. Nicht einmal die Kinder. Zweifellos handelte sie nach Monsieur Hegolts Anweisung und dem Rat der Ärzte, um die Kranke zu schonen und jegliches Ungemach von ihr fernzuhalten. Leider vergaßen sie alle dabei die Wünsche der Seele.
Die umgehend aufgetauchten Schaulustigen am Ufer beim Holzplatz neben dem Drillhaus verfolgten neugierig, warum diese Dame im ziemlich ramponierten Gewand mit den beiden Männern stritt und sie so von ihrer Arbeit abhielt. Der Knecht aus dem nahen Marstall wartete nicht lange ab. Er striegelte regelmäßig die Pferde der Reitendiener, der
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