Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
zum Borgesch oder von dort, wo auch ein Teil der die Elbe heruntergeflößten Stämme lagerte, zersägt oder zu Brettern gemacht wurden, hierherzubringen. Gewöhnlich lungerten ein paar Männer und Jungen herum und sahen ihnen bei der Arbeit zu. In der Hoffnung auf ein paar Münzen packte immer mal einer mit an, oder eine der Frauen aus der Nachbarschaft, die hier ihr Feuerholz holten, bat darum, gegen einen Krug Bier oder eine frischgebackene Waffel die schweren Holzkörbe in ihre Wohnung hinaufzutragen. Seltener eine Magd, in diesem Teil der Stadt gab es trotz der Lage nahe am Wasser nur wenige für wohlhabende Familien geeignete Häuser.
Heute war natürlich alles anders gewesen. Die Schaulustigen hatten sich blitzschnell und in großer Zahl eingefunden, ebenso schnell waren auch die letzten wieder verschwunden, nachdem der Karren mit dem Leichnam fort war. Immer noch lag der Platz verlassen. Niemand, nicht einmal ein Bettelkind oder eine der ewig hungrigen herrenlosen Hunde, sah ihnen bei der Arbeit zu, niemand wollte ihre Hilfe oder bot die eigene an. Gewöhnlich rannten alle dorthin, wo ein Unglück geschehen, wo etwas Grausames oder auch nur Gruseliges zu begaffen war. Am beliebtesten waren natürlich die Hinrichtungen, aber die gab es selten. Heute schien es, als mieden die Leute den Ort des Dramas, von dem noch niemand wusste, was für eines es war, welches sich womöglich hinter dem Tod der Frau verbarg.
Luis hätte sich die Tote gerne genau angesehen und mehr über sie erfahren, doch die Soldaten hatten ihn nicht wieder ans Ufer gelassen und auf Fragen eisern geschwiegen. Bei dem Arzt hatte Luis es gar nicht erst versucht, ebenso wenig bei dem kleinen dicken Mann, den sie hier Weddemeister nannten und der für «die Jagd nach jeglichen Unholden» zuständig war, so hatte ihm eine der Straßenverkäuferinnen mit einem großen Korb voll toter Täubchen und Wachteln wichtig zugeraunt. Als dann diese Frau nach vorne stürzte, hatte er wie alle den Hals gereckt, er hatte ihr Gesicht von seinem Platz erst sehen können, als sie sich wieder umdrehte und, mit den Ellbogen durch die Leute drängend, davonhastete. Er kannte sie nicht, jedenfalls glaubte er nicht, ihr begegnet zu sein, dennoch kam sie ihm bekannt vor.
Umso besser kannte er die andere Frau, die ihr aus den hinteren Reihen genauso eilig folgte. Elske, der gute Geist vom Borgesch, so nannte er sie manchmal. Sie mochte das nicht, sie sei nicht gut und erst recht kein Geist. Dann lachte er, weil sie ein so mürrisches Gesicht zog, als habe er sie beleidigt. Elske hatte ihn in der Menge nicht gesehen, sie war der anderen nachgerannt, als sei es eine Freundin, eine vertraute Freundin gar, um die sie sich sorgte, die sie in ihrem Schrecken – oder war es Kummer gewesen? – trösten wollte. Das war seltsam. Er kannte Elske, wiederum seine vertraute Freundin, doch nun lange genug, um auch ihre Freundinnen zu kennen. Es waren wenige, aber vielleicht hatte er das nur geglaubt, und tatsächlich hielt sie ihn von ihrem wahren Leben fern. Erstaunt spürte er, wie ihn diese Vorstellung kränkte. Das war lächerlich. Er mochte Elske, auf seine Art liebte er sie sogar, er fühlte sich bei ihr auch – geborgen? Ja, geborgen. Aber es war eine Liebe auf Zeit, und da er sich in jugendlicher Leichtfertigkeit keine Gedanken über ihr zukünftiges Leben machte, hatte er sich auch kaum für ihr früheres interessiert. Oder für die Stunden, die sie ohne ihn verbrachte.
Nun würde er sie fragen und war gespannt auf die Antwort. Diese Frau, die am Ufer so entsetzt gewesen und der Elske nachgerannt war, musste wissen, wen sie dort aus der Alster geklaubt hatten. Warum sonst hätte sie so heftig reagiert? Und wenn Elske sie so gut kannte, wie es ausgesehen hatte, wusste sie es jetzt auch. Er verstand nicht wirklich, warum er unbedingt erfahren wollte, wer die Tote war. Wer sie gewesen war. Er ahnte den Grund seiner Wissbegier und schob ihn weg. Darin war er auch an diesem Tag ziemlich gut.
«Nu’ mal los», hörte er Pieter knurren, «steh nicht blöd rum und guck Löcher in die Luft. Steig endlich auf. Oder willst du festwachsen?»
Bei jedem anderen hätte Luis nun die Fäuste geballt, so ließ er sonst nicht mit sich reden. Zumindest wäre eine deftige Replik fällig gewesen, er war für seine so flinke, für einen Flößer ungewöhnlich gewandte Zunge bekannt. Bei Pieter blieb er stumm, der hatte einiges bei ihm gut. Er wusste nicht, ob Pieter besonders langmütig
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