Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
gewesen und wieder kalt geworden. Sie fror nicht nur deshalb.
Der Anblick der Toten hatte sie zunächst kaum berührt. Sie hatte sich erschreckt, als sie auf dem Bauch über das Eis gerutscht war und sie darin entdeckt hatte, aber der Schrecken hatte sich kaum von dem bei ihrem Stolpern und Fallen unterschieden. Als sie sich mit dem Weddemeister und dem Wundarzt am Ufer über den Leichnam gebeugt hatte, war sie vor allem neugierig gewesen. Jetzt holte sie die Kälte des Grauens ein. Das empfand sie als unangenehm und beruhigend zugleich, denn der Tod, insbesondere ein gewaltsamer Tod, sollte sie niemals gleichgültig lassen.
Zweimal hatte sie unterwegs ihren Namen rufen hören. Der Besitzer der Zeitungsbude bei der Trostbrücke war ihr sogar einige Schritte nachgelaufen. «Was ist dort an der Alster denn nun wirklich passiert, Madam Vinstedt? So bleibt doch stehen. Madam, sagt mir …»
Sie war nur noch ein bisschen schneller weiter gehastet, trotz der belebten Straßen. Es war nun schon fast ein Jahr her, seit sie sich mit ihrem damals gerade angetrauten Ehemann Magnus in Hamburg niedergelassen hatte. Auch da war die Stadt für sie kein unbekanntes Terrain mehr gewesen, seit etlichen Jahren war sie als Mitglied der Becker’schen Komödiantengesellschaft immer wieder hier aufgetreten. Für eine Saison zur Zeit des so grandios gescheiterten Versuchs eines ersten Nationaltheaters hatte sie sogar zum festen Ensemble des großen Komödienhauses im Opernhof beim Gänsemarkt gehört. Die Stadt war ihr also vertraut, sie kannte sich aus, hatte sogar Freunde hier und in diesen Straßen eine Menge erlebt. Trotzdem verblüffte es sie immer wieder aufs Neue, mit welcher atemberaubenden Geschwindigkeit sich in dieser riesengroßen Stadt Neuigkeiten, Gerüchte und Klatsch verbreiteten. Rasant wie ein Feuer, das bei Sturm von Dach zu Dach springt.
Als sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufzusteigen begann, hörte sie von oben polternde Schritte. In der ersten Kehre rannte Pauline sie fast um.
«Da seid Ihr ja», rief sie atemlos und umklammerte mit beiden Händen das Geländer, damit ihr Schwung sie nicht weiter hinuntertrage. «Gott sei gedankt!»
Tobi!, dachte Rosina erschreckt, während der letzten beiden Stunden hatte sie nicht einmal an ihn gedacht. «Was ist mit ihm?», rief sie. «Geht es ihm schlechter?»
«Ihm? Wieso ihm? Ach so, Ihr meint den Jungen. Dem geht es gut. Er schläft wie einer mit engelreinem Gewissen. Wie geht es Euch ? Ihr seid fast ertrunken, ach, und das schöne Kleid! Was sage ich da? Ich dumme Gans. So ein Riss ist im Handumdrehen repariert. Aber wenn Ihr jetzt krank werdet, vom eisigen Wasser und der Kälte, und erst der entsetzliche Anblick, den Ihr ertragen musstet …»
«Halt, Pauline, halthalthalt. Du plapperst sinnloses Zeug. Mir ist nichts passiert, gar nichts.» Sie grüßte mit zuckersüßem Lächeln die aus zwei verstohlen geöffneten Türen blinzelnden Gesichter und zog Pauline energisch weiter die Treppe hinauf. «Ich habe nur Hunger», verkündete sie und dann, laut genug, damit alle im Treppenhaus es hören konnten, «und Lust auf einen Schnaps. Einen doppelten!»
Die Quelle für Paulines überraschendes Wissen war Madam Hopperbek aus dem vierten Stock. Sie hatte vor einer Viertelstunde bei ihr geklopft und die Neuigkeit gebracht. Das mit den Handgreiflichkeiten gegen die Soldaten hatte sie verschwiegen, obwohl es ihr wirklich schwergefallen war, denn das war doch das Beste. Aber sie war eben eine empfindsame Person, es wäre nicht nett gewesen, Pauline zu verdrießen, von der man sich immer mal einen Löffel Zucker, ein Ei, sogar ein paar Kaffeeböhnchen leihen konnte, ohne dass man es gleich ersetzen musste. Madam Hopperbek hatte die Neuigkeit vom Bäcker bei der Holzbrücke, der sie wiederum vom Königlich-Schwedischen Posthalter am St.-Petri-Kirchhof gehört hatte, dem es die Handschuhmacherin an den Raboisen anvertraut hatte. Die wusste es von einem Unteraufseher des Spinnhauses, der alles mit eigenen Augen gesehen hatte, was er bereit war, jederzeit und auf die Bibel zu beschwören, sobald er während dieses langen Tages ein offenes Ohr für seine Neuigkeiten fand. Wenn man die Kette bedachte, durch die die Nachricht weitergesaust war, war der Wahrheitsgehalt erstaunlich hoch geblieben.
Als das Fuhrwerk endlich entladen war, ließ Luis seinen Blick ein letztes Mal über den Holzplatz gleiten. Er hatte während der letzten Monate oft geholfen, Nachschub vom Holzhafen
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