Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
seinen Nacken steif werden und lauschte angestrengt, als könne er in den schon verklungenen Schritten seines Besuchers noch etwas hören oder erkennen.
Alles war befremdlich ruhig. Die Kinder waren in den beiden Klassenräumen, niemand, auch keine der drei Mägde, klapperte mit Holzpantinen über die Treppe, die Webstühle standen noch still, sogar der gewöhnliche Lärm vom Hafen fehlte. Solange noch Eis auf dem Fluss war, gab es nur das Holpern und Knarren von Fuhrwerken, den Klang schwerer Pferdehufe. Selbst das Geschrei der Straßenverkäufer und Fuhrleute klang heute durch dieses beunruhigende Rauschen in seinem Kopf erst recht gedämpft. Siedend heiß durchfuhr es ihn. Er sah schlecht, aber immer noch besser als mancher seiner Altersgenossen, von denen etliche sogar der Star blind gemacht hatte – manche erst die Starstecher, aber das war eine andere Sache –, neuerdings vergaß er offenbar Wichtiges. Ließ ihn nun auch sein Gehör im Stich? Er schluckte erschreckt, und da kehrten die vertrauten Geräusche zurück, wenige und wie von ferne, denn es ging auf Mittag, die ruhigste Zeit des Tages.
Alles war normal. Alles war vertraut. Alles hatte seine Ordnung. Ein paar verrutschte Blätter alten Papiers konnten seine Ordnung nicht wirklich stören. Und wenn er schon so gedankenlos oder zu tief in Gedanken gewesen war (das gefiel ihm sehr viel besser), zu vergessen, die Tür abzuschließen, war er wohl auch so nachlässig gewesen, die Reihenfolge der Bände zu missachten. Allerdings – stirnrunzelnd blickte er auf die Reihen alten Papiers – konnte er sich nicht erinnern, gerade diese Bände in den letzten Tagen gebraucht zu haben. Wozu? Sie enthielten nur sehr alte Einträge.
Da fiel es ihm ein, und er konnte erleichtert zu seinem Platz hinter dem vor den alltäglichen Unbilden beschützenden Tisch zurückkehren. Es war im Januar gewesen. Das war lange genug her, um es für den Moment zu vergessen. Und nun war es ihm wieder eingefallen, also war sein Kopf noch, wie er sein sollte. Ja, im Januar hatte er einige der alten Bände gebraucht. Da waren Nachfragen zu irgendwelchen Jungen gewesen, zu welchen und warum, erinnerte er im Moment nicht, es war unwichtig. Da hatte er die Bände ausnahmsweise nicht ordentlich zurückgestellt, wahrscheinlich war er just in dem Moment von etwas Wichtigem gestört worden. So etwas kam vor. Womöglich hatten auch die beiden neugewählten Provisoren den einen oder anderen Band herausgezogen und darin geblättert, als der Ökonom sie durch das Haus geführt und mit allem bekannt gemacht hatte.
Nur so konnte es gewesen sein. Mit der anderen, der zerbrochenen Brille hätte er es natürlich längst bemerkt und in Ordnung gebracht. Das holte er nun nach. Reihe um Reihe glitten seine Finger über das staubige Papier und die Buchrücken, und bald hatte alles wieder seine Ordnung. So wie immer.
Kapitel 4
Montagmittag
Der Leichnam war von den Eisbrocken befreit und mit Decken verhüllt worden. Nun zeigte sich, dass das durch soldatischen Eifer ausgelöste Vertreiben der Schaulustigen letztlich von Vorteil gewesen war. Wagner musste sich nicht als Schaubudennummer fühlen, während er die von zwei Soldaten geschobene Karre mit der traurigen Fracht zum glücklicherweise halbwegs nahen Eimbeck’schen Haus begleitete. Wohl folgten ihm tausend Augen, wurde hier und da flüsternd auf den Karren gezeigt, doch das bei solchen Gelegenheiten übliche Gedränge und Gejohle blieb aus. Er war sicher, das lag an den Soldaten, und offensichtlich hatte sich schon herumgesprochen, hier gehe es um ein Verbrechen, um offene Fragen und Zeugen, um die Suche nach einem Schuldigen. Da drängten sich nur Idioten vor.
Wagner merkte sich das. Bisher hatte er sich darüber geärgert, wenn den Uniformierten wieder mal größerer Respekt bewiesen wurde als ihm und seinen Leuten. Stattdessen wollte er das nun für sich nutzen, indem er sich von Soldaten begleiten ließ, wenn er einer komplizierten Ermittlung nachzugehen hatte. Er musste sich nur noch eine Schliche ausdenken, den Stadtkommandanten davon zu überzeugen. Leider neigte der Major gegenüber dem Weddemeister zur Ignoranz.
Als Wagner und Dr. Pullmann noch darüber gewacht hatten, dass die Soldaten die Leiche behutsam auf die Karre hoben und zudeckten, war Rosina schon auf dem Weg zurück zu ihrer Wohnung in der Mattentwiete. Seit sich die ersten Wolken vor die Sonne geschoben hatten, war es mit der Milde des Frühlingstages schlagartig vorbei
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