Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Unterrichtszeit nicht verlassen solltet – keinesfalls! –, muss es wichtig sein. Jetzt bin ich hier.»
«Natürlich habt Ihr recht.» Stedings Stimme klang ergeben, er wandte sich wieder nach ihm um und steckte die Hände in die Rocktaschen. «Ich habe vier der älteren Jungen als meine Vertreter bestimmt und betrachte das als eine Übung für die Kinder. In», er räusperte sich dezent, «in Selbstbeherrschung. Und Gehorsam, natürlich. Es scheint zu gelingen, jedenfalls höre ich keinen Lärm. Ich muss trotzdem rasch zu den Jungen zurück. Ich wollte nur einen Vorschlag machen, Monsieur Zacher, es hat keine Eile.»
«Vorschlag?» Zacher zog seine Perücke vom Kopf und stülpte sie über die dafür vorgesehene Holzform, die hinter ihm im Regal stand. Er hätte sich gerne über der Stirn gekratzt, das alte Ding reizte stets seine nur noch spärlich mit Haar bedeckte Kopfhaut, aber nicht vor diesem geleckten jungen Mann. Er wusste seine Würde zu wahren. «Vorschlag, so. Ihr macht mich neugierig.»
«Nun gut. Eine Minute länger werden die Jungen sich noch gedulden. Ich wollte mit Euch über die Tinte sprechen. Ich weiß», fuhr er hastig fort, «wir müssen sehr sparsam sein – ich bin stets darum bemüht. Aber diese Holzruß-Tinte, die wir den Kindern geben, ist viel zu dünn. Es animiert sie überhaupt nicht, sich Mühe zu geben und die Buchstaben, die Reihen der Sätze auch schön zu schreiben. Die Schönheit des Schreibens, der Buchstaben ist wichtig, da werdet Ihr mit Eurer reichen Erfahrung zustimmen. Wenn etwas schön ist, macht es Freude, und was Freude macht, fördert den Fleiß. Ganz einfach. Ich habe ein Rezept für eine bessere Tinte, ein lange erprobtes Rezept, ich mache meine eigene danach. Die Galläpfel und das Gummi arabikum kosten natürlich ein wenig mehr als der wohlfeile Holzruß, auch das Eisenvitriol, aber langfristig zahlt es sich aus. Unter den Mädchen sind einige sehr geschickt, wenn ich sie anlerne, können sie auch das regelmäßige Umrühren übernehmen, für sechs, besser acht Wochen.»
Zacher hob abwehrend beide Hände, doch seine Stimme klang ungewohnt milde. Was nur daran liegen konnte, dass es ihm schmeichelte, wenn der Präzeptor mit diesem Anliegen zu ihm kam, obwohl es ein ganz und gar unmögliches war. Eines, wie es nur einem schwärmerischen jungen Menschen einfallen konnte, der erst wenig von den wahren Härten des Lebens erfahren hatte. Ja, er selbst war einst – papperlapapp. Galläpfeltinte für die Waisenkinder! Überhaupt für Kinder – was für eine Vergeudung. Solche Tinte benutzte sogar er nur für die wichtigsten Schriftstücke, für Dokumente, die sehr lange, am besten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag lesbar bleiben mussten.
«Ich weiß Euren Eifer zu schätzen, Steding», sagte er und dachte mit einem Anflug von echtem Bedauern, dass er just diesen Eifer gleich ersticken werde. «Ihr seid noch kein Jahr bei uns und müsst erst lernen, was Sparsamkeit wirklich heißt. Nämlich äußerste Sparsamkeit. Es ist unmöglich, für diese armen Kinder so gute Tinte anzusetzen. Zumal es so viele Kinder sind, nämlich dreihundertfünf, wenn auch noch nicht alle schreiben, besonders mit Tinte. Es sind trotzdem zu viele.»
Im Übrigen müsse ein solches Anliegen Ökonom Faber unterbreitet werden, der Verwalter des Hauses entscheide mit den zuständigen Herren vom Rat und den Provisoren, er selbst führe nur darüber Buch.
Als er Stedings jugendlich leichten, auf der Treppe verklingenden Schritten nachlauschte und dachte, es sei doch schön gewesen, als seine Knie ihm noch erlaubt hatten, ebenso leicht die Treppen hinauf- und hinabzulaufen, fiel sein Blick auf den die gegenüberliegende Wand bedeckenden offenen Aktenschrank. Irgendetwas sah nicht so aus, wie es sollte. Wieder kniff er die Augen zusammen und schnaufte misslaunig. Er brauchte wirklich dringend eine zweite Brille, sehr dringend. Er war bekannt für seine mustergültige Ordnung, die Papiere lagen Blatt für Blatt Kante auf Kante, was bei all den vielen Bögen und Mappen nicht einfach war. Die schon zu Büchern gebundenen älteren Akten standen Rücken an Rücken in der richtigen Reihenfolge, Jahrgang um Jahrgang um Jahrgang.
An den Schrank getreten, die Nase ganz nah an den Fächern, war er nicht mehr so sicher. Seine Finger glitten über die Reihen, und richtig, da war doch eine Mappe verrutscht, dort eine andere, und hier waren zwei Bände vertauscht und standen in der falschen Reihenfolge. Er spürte
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