Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
nicht. Das gab Hoffnung – vielleicht vergaß er es darüber.
«Ihr könnt den Jungen nicht schützen», sagte Pauline, «Kindsein ist nun mal selten lustig. Waisenkindsein doppelt wenig.»
«Vielleicht sollten wir ihn besser wieder in die Waisenhausschule schicken», überlegte Rosina, immer noch aus dem Fenster sehend. «Dort wäre er kein Außenseiter.»
«Doch, Madam, das wäre er.» Pauline hieb mit der Faust kräftig auf den Brotteig ein, den sie seit einer Viertelstunde knetete. «In der Katharinenschule ist er ein Außenseiter, weil er Kostkind und Waise ist. Im Waisenhaus wäre er es, weil’s ihm hier bei uns besser geht als den anderen, übrigens auch als den meisten, sogar den allermeisten anderen Kostkindern. Allein die Kleider, die Monsieur Vinstedt ihm gekauft hat! Die sind viel besser als die ewigen blauen Sachen der Waisen. Ja, ich weiß: Denen im Haus am Rödingsmarkt geht’s besser als vielen, die bei ihren Eltern oder Verwandten leben, kann ja sein. Reine Kleider und jedes Jahr neue. Sogar Schuhe. Sie lernen was und haben alle Tage nicht reichlich, aber wohl genug zu essen. Wenigstens ist er kein Findelkind, von dem keiner weiß, wo er herkommt und ob er, na ja, ob er einen ehrlichen Vater hatte.»
Rosina nickte halbherzig. In den Akten wurde Tobias nicht als solches geführt, und das war entscheidend. Einem, von dem man nicht wusste, ob er ehelich geboren war, blieben viele Wege in die Zukunft versperrt. Wenn diese Zukunft ein behagliches Auskommen durch ehrliche Arbeit versprechen sollte, tatsächlich die meisten. Insbesondere die Ämter, wie in dieser Stadt die Zünfte genannt wurden, achteten noch streng darauf, dass nur Geselle wurde, wessen eheliche Geburt in den Taufregistern vermerkt und bewiesen war. So genannte unehrlich geborene Kinder würden, ginge es strikt nach den Vorschriften, nicht mal im Waisenhaus aufgenommen.
Bei den fahrenden Komödianten, Musikern, Puppenspielern oder Akrobaten kümmerte das niemand. Aber auch ihr wäre das heute zweifellos wichtig, wenn sie nicht in jener schwarzen Nacht aus dem Fenster auf den knirschenden Kies gesprungen und zu den Komödianten davongelaufen wäre, wenn sie nicht ein Jahrzehnt deren Leben geteilt hätte, als wäre ihr nie ein anderes bestimmt gewesen. Flüchtig schoss ihr durch den Kopf, ob Magnus sie geheiratet hätte, wenn ihre Eltern unbekannt …
Weg mit diesen überflüssigen Gedanken! Sie hatte einfach zu viel Zeit, in ihrem früher so arbeitsreichen Leben war nun viel zu viel Nichtstun, da musste man auf dumme Gedanken kommen. Dumme, überflüssige Gedanken. Sie musste sich eine Arbeit suchen. Was nicht einfach war. Auf damenhafte Fertigkeiten wie Sticken und Nähen hatte sie sich nie verstanden, sie konnte singen und tanzen, Komödie spielen. Und Stücke übersetzen, sogar in Versen. Sie fühlte eine Welle von Zuversicht. Wenn erst die Fastenzeit vorbei war und die Theater wieder öffneten, wenn die neue Theatergesellschaft um den schon berühmten jungen Schröder zurück in die Stadt und an das Komödienhaus beim Gänsemarkt kam, würde sie sich etwas einfallen lassen.
«Er wird noch oft Prügel beziehen», stellte Pauline gerade nüchtern fest, und Rosina fragte sich flüchtig, ob sie womöglich einen bedeutsamen Satz überhört hatte. «Jungs prügeln sich, auch manche Mädchen. Sogar meine sanfte Älteste hatte ein oder zwei wilde Jahre. Mal gewinnt man, mal verliert man. So ist das. Wenn er ein bisschen größer und nicht mehr so spillerig ist, haben andere die dicken Augen.»
«Ich bin nicht sicher, ob mir das besser gefällt.»
Mit einem Achselzucken klatschte Pauline den Teigklumpen auf den Küchentisch. «Ich fürchte, danach wird keiner fragen, Madam. Wollt Ihr wirklich alleine zum Borgesch gehen?», fragte sie nach einer kleinen Pause. «Das ist keine gute Gegend.» Wieder klatschte der Teig mit Wucht auf den Tisch. «Ich hab’s schon gesagt: Ihr solltet das nicht tun.»
«Mal gewinnt man, mal verliert man. So ist das. Ich weiß die Fürsorge zu schätzen, Pauline. Aber ich laufe doch nicht zum ersten Mal alleine durch die Stadt. Es ist heller Vormittag, enge Gassen mit düsteren Kaschemmen gibt es dort auch nicht – was sollte mir geschehen?»
Pauline klopfte schweigend ihren Teig zum Oval und bestäubte ihn mit grobgemahlenem Mehl. Sie hatte weniger an Überfälle, tollwütige Hunde und ähnlich banale Gefahren gedacht, sondern einen weiteren Schatten auf dem Ruf der Vinstedts befürchtet. Keine
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