Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
ordentliche Dame spazierte alleine durch die Stadt, jedenfalls nicht so weit und erst recht nicht in jene Gegend der Vorstadt St. Georg. Die Alsterseite mit ihren Gärten und recht manierlichen Straßen mochte noch angehen, auch der südliche Teil mit den Sommerhäusern inmitten großer Gärten und dazu dem Malthus’schen Baumgarten, dazwischen jedoch – einen großen Teil St. Georgs ausmachend – waren Gewerbe angesiedelt, um die jeder, der es irgendwie vermeiden konnte, einen weiten Bogen machte: der Schinderhof, Branntweinbrennereien und die wegen des Gestanks aus der inneren Stadt verbannten Schweinekoben und -suhlen. Das alte, nun Köppelberg genannte Galgenfeld hatte zwar ausgedient – das Blutgerüst stand jetzt ein ganzes Stück außerhalb der zweiten, auch die Vorstadt St. Georg schützenden Mauer, dort, wo kaum jemand wohnte. Doch wo jahrhundertelang übelste Verbrecher gerichtet und ihre Überreste verscharrt worden waren, konnte nichts Gutes gedeihen. Bei Tag oder bei Nacht – das war einerlei.
Immerhin hatte Madam Vinstedt versprochen, ihren alten Umhang zu nehmen und vor allem ihren kostbaren weißen Pelzkragen zu Hause zu lassen. Natürlich hatte sie das, Pauline hätte sie nicht daran erinnern müssen. Schließlich ging sie nicht zum Gottesdienst, in ein Konzert oder zu den vornehmen Herrmanns zum Tee.
Dankbarkeit gehörte für Pauline zu den wahrhaft christlichen Tugenden, die sich auszahlten, aber auch übertrieben werden konnten. Zum Beispiel, wenn Madam Vinstedt selbst zum Borgesch hinausging, um den beiden Männern, die ihr vom Eis geholfen hatten – vom Eis, nicht aus dem Eis, was ein erheblicher Unterschied war! –, zu danken und eine Hasen-Pastete zu bringen. Eine Delikatesse aus den besten Zutaten in feinem Blätterteig, die grobe Kerle wie Holzarbeiter kaum zu schätzen wussten.
Hätte Pauline an der Tür gelauscht, nachdem sie gestern Nachmittag den Weddemeister in den Salon geführt hatte, hätte sie sich weniger gewundert.
Rosina hatte in eine Decke gewickelt und die Füße in dicken Socken auf heißen Steinen am Kachelofen gesessen und lustlos Salbeitee getrunken, der schrecklich gesund schmeckte und es hoffentlich auch war. Pauline hatte auf beidem bestanden und Rosina ausnahmsweise nicht widersprochen.
Weddemeister Wagner setzte sich mit besorgtem Blick, brachte Grüße von Karla, seiner Frau, die ihn wegen einer eilig auszuführenden Stickarbeit leider nicht habe begleiten können. Karla war ein zartes, liebevolles Geschöpf, trotz recht bescheidener Geistesgaben manchmal überraschend weise und enorm geschickt, wenn es um feine Stickerei ging. Da sie dieser Arbeit mit Leidenschaft und unermüdlich nachging, erfuhr Wagners bescheidenes Einkommen eine hübsche Aufbesserung.
«Ich bin nicht krank, Wagner. Ich habe mich nur erschreckt und ein bisschen gefroren. Es geht mir gut. Na ja, ziemlich gut. Etwas plagt mich doch.»
Sie schob den Tee weg, zog das Tablett mit der Portweinkaraffe heran und füllte zwei Gläser. Wagner erlaubte sich zu grinsen. Er war ein guter Beobachter und kannte sie längst genug, um in ihrem Gesicht lesen zu können. Er nippte in aller Ruhe an dem Portwein, einem seltenen Genuss, und stellte das feine, in seinen rundlichen Fingern zerbrechlich scheinende Glas behutsam auf den Salontisch zurück.
«Ja», sagte er, lehnte sich zurück und faltete die Hände über seinem Bauch, «das dachte ich schon.»
«Dann fangt an», sagte sie heiter und schenkte ihm nach. «Ihr müsst zugeben, dass ich in diesem Fall geradezu ein Recht auf meine Neugier und Euren Bericht habe. Schließlich habe ich sie gefunden. Das war kein Vergnügen, glaubt mir, dabei war ich Schlittschuh laufen, um mich von einem anderen Schrecken zu erholen, der mir nun im Vergleich unerheblich scheint. Also seid nett und entschädigt mich mit dem, was Ihr wisst.»
«Ja», Wagner grinste nun gar nicht mehr, «da haben wir ein Problem. Nun ja, ich habe eines.»
«Ich dachte gleich, dass Ihr nicht nur aus Sorge um mein Wohl gekommen seid.»
Er räusperte sich, rieb die Hände über die Oberschenkel und suchte nach dem richtigen Anfang.
«Eins ist sicher», begann er, «sie ist keinesfalls freiwillig in den Tod gegangen, das dachten wir ja schon. Der Stadtphysikus hat den Leichnam begutachtet und ist gleicher Meinung wie Dr. Pullmann, was er sonst selten ist. Allerdings sagt er, dass sie noch nicht ganz tot war, als sie in die Alster gestoßen wurde.»
«Das heißt, ihr Mörder
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