Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Kochkünste bedacht hätte, anstatt sie mit dem üblichen wohlwollenden Nicken in ihre Küche zu entlassen. Die Lüge wäre dann doch zu deftig gewesen, so trug er ihr nur noch auf, Valerie mit einer neuen Karaffe Wasser heraufzuschicken, und zwar mit einer der großen.
Er sah mit kaum verhohlener Neugier zu seiner Tante. Für eine alte Witwe bekam Augusta häufig Post. Briefe, Einladungen und Grüße aus der Stadt oder, besonders im Sommer, von den Landsitzen und Gartenhäusern des Umlands, sie hatte noch Freundinnen in Kopenhagen, wo sie den allergrößten Teil ihres Lebens verbracht hatte, nicht zu vergessen den Verwalter ihrer dänischen Liegenschaften und Schiffsparten. Sie korrespondierte mit einem, wie Claes fand, überaus exzentrischen Londoner Privatier und Kunstsammler von griechischen Antiken und einigen anderen Personen, die genug Muße für diese Schreiberei hatten. Wenn aber ein Brief so eilig war, dass seine Übergabe nicht bis nach dem Essen warten konnte, handelte es sich für gewöhnlich stets um seine Handelspost. Also um tatsächlich Wichtiges. Oder um Nachricht von Anne; ob im Kontor oder im Wohnbereich des Hauses würde es niemand wagen, ihm Post von seiner Frau auch nur zehn Minuten vorzuenthalten.
Augusta hatte das gerollte Papier von einer nachlässig gebundenen Schnur befreit. Sie murmelte etwas von «Sie hat mal wieder den Siegellack verlegt», und entrollte mit spitzen Fingern den, nun ja, den wirklich nicht reinlichen Papierbogen, klappte ihre Lorgnette auseinander und hielt sie vor die Augen.
«Ihr entschuldigt doch», murmelte sie, ohne den Blick von ihrer Post zu heben. «Und esst bitte euer Dessert.»
«Etwas Schlimmes?», fragte Claes endlich, nun weniger aus Neugier, Augustas besorgtes Gesicht beunruhigte ihn.
«Nein.» Sie faltete den Bogen und legte ihn neben ihren Teller. «Jedenfalls nicht wirklich. Tatsächlich weiß ich es nicht. Das Schreiben ist von meiner alten Freundin Amanda. Habe ich erwähnt, dass sie seit einiger Zeit hier in der Nähe lebt? Ach, einerlei. Ich fürchte, sie hat sich gründlicher, als ich dachte, mit ihrem Sohn überworfen und benimmt sich trotzig wie eine Zwölfjährige. Das hat sie allerdings schon ihr ganzes langes Leben lang getan, sobald nicht alles so lief, wie sie es wünschte. Ich wollte sie morgen besuchen, das hatten wir verabredet. Nun bittet sie, nein, sie ordnet an, ich sollte frühestens in der nächsten Woche kommen, sie sei noch nicht eingerichtet.»
«Hm», brummte Claes. Er verstand das Problem nicht und warf seinem Sohn einen hilfesuchenden Blick zu. Leider war Niklas intensiv damit beschäftigt, seinen Teller ein drittes Mal mit der göttlichen Aprikosencreme zu füllen. «Das klingt doch ganz vernünftig, Augusta. Wenn man noch nicht eingerichtet ist, und dann kommt Besuch …»
«Im Prinzip mag das zutreffen. Aber ich habe sie schon gekannt, als wir Mädchen waren, sie hat mit ihrer Familie in Kopenhagen und dann auf den karibischen Inseln gelebt, jetzt ist sie eine ebenso alte verwitwete Schachtel wie ich und erst seit kurzem hier. Just bei ihrem ‹Sicheinrichten› sollte und wollte ich sie unterstützen. Ich glaube nicht, dass sie hier außer mir verlässliche Hilfe hat. Aber wahrscheinlich hast du recht, Claes, Amanda war schon immer schrullig.» Sie gab der Papierrolle einen unmutigen Schubs, griff nach ihrem Löffel und tauchte ihn in die Creme auf ihrem Teller. «Und dann auch noch zu lange Jahre zu viel in der Sonne, fürchte ich. Ich werde ihr schreiben. Bis zur nächsten Woche, möglicherweise schon morgen, hat sie es sich bestimmt anders überlegt. Das wäre typisch. Und wenn nicht, spiele ich eben den ungebetenen Gast. Sie wird kaum auf mich schießen.»
Dienstag, 23. März
An diesem Morgen hatte Rosina Tobias nachgesehen, bis er um die Ecke verschwunden und ihrem Blick entzogen war. Sie hatte vorgehabt, ihn nicht gehen zu lassen, aber obwohl er mit seinem blauen Auge, der geschwollenen Lippe und den zerschrammten Händen erbarmungswürdig aussah, war er munter wie an jedem Morgen aus seinem Kämmerchen gekommen. Er hatte seine Grütze hungrig heruntergeschlungen und sie ihn ermahnt, den Löffel richtig zu halten, nicht zu schmatzen oder zu schlürfen – wie an jedem Morgen. Dann war er davongehüpft, auf der Treppe immer zwei Stufen auf einmal nehmend, polternd – auch wie an jedem Morgen. Nur dieses Vor-sich-hin-Pfeifen, das er sich neuerdings angewöhnt hatte, klappte heute wegen der Lippenschwellung
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