Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
unserer großen Stadt gibt es immer Leute, die jemanden vermissen, natürlich, aber wir sind die Wedde, wir sind da nicht so recht zuständig, die Leute müssen schon selbst nach ihren Angehörigen suchen. Gerade Ehemänner verschwinden so regelmäßig wie die Sonne hinter dem Horizont. Ja, auch Dienstboten, hin und wieder. Wer denkt dabei gleich an Mord und Totschlag? Die meisten denken eher an Flucht. Manchmal liest man Suchanzeigen in den Zeitungen, von Leuten, die es sich leisten können. Zumindest im letzten Vierteljahr habe ich aber keine gesehen und von keiner gehört, in der eine Frau in mittlerem Alter gesucht wurde. Ihr?»
Auch Rosina hatte kein solches Inserat gelesen. Allerdings gab es mehr als eine regelmäßig erscheinende und Inserate abdruckende Zeitung in der Stadt, weitere im nur eine halbe Stunde nach Westen entfernten Altona hinter dem Hamburger Berg oder nach Osten in Wandsbek. Sie und Magnus bekamen stets die ausgelesenen Exemplare des Hamburgischen Correspondent von den Herrmanns, manchmal auch die eine oder andere Ausgabe der Addreß-Comtoir-Nachrichten. Rosina erinnerte sich nur an einen samt einem Puderbeutel und einer Brennschere entlaufenen Kammerdiener, zwei verlorene chinesische Hunde und an zwei Männer, deren Erbe einem anderen zufiel, wenn sie sich nicht bis zu einem bestimmten Tag meldeten. Nur der Besitzer der exotischen Hunde versprach eine Belohnung für einen verlässlichen Hinweis.
Da Rosina vergaß, sein Glas nachzufüllen, und er unmöglich darum bitten konnte, zog Wagner sein großes blaues Tuch aus der Rocktasche, wischte sich über die Stirn und begann, es in den Händen zu drehen.
Ihm sei da etwas eingefallen, erklärte er, sie habe ihn nach einer Frau gefragt, die beim Anblick des Leichnams aufgeschrien habe, was er unbedachterweise ignoriert habe, ja, das müsse er nun zugestehen. Als dann der Dragoner nach der Person fragte, habe sich natürlich niemand gemeldet, so sei es eben mit den Soldaten. Die Weiber machten ihnen schöne Augen, aber wenn’s um Auskünfte ging – nichts. Leider auch, wenn er, der Weddemeister, oder Grabbe, sein bester Weddeknecht …
«Ich weiß, Wagner, ich weiß», beteuerte Rosina fröhlich. «Ich dachte schon, Ihr fragt nie und ich muss mich ohne Euren Segen auf die Suche machen. Es wäre nicht zum ersten Mal, wenn Ihr Euch erinnert.» Sie schälte sich aus ihrer Decke und schob die warmen Steine zur Seite. «Ich weiß, wie ich etwas herausfinde. Nicht gleich Namen oder Wohnung der Toten, aber wer die andere war, die Erschreckte. Dann sehen wir weiter. Ich bin sicher, dass die Männer, die mir vom Eis geholfen haben, die Frau kennen, die Ihr jetzt sprechen möchtet. Ach, du meine Güte – jetzt habe ich ein Problem.»
Wagners Schultern sanken herab, sein Rücken wurde eine Idee krummer, und er schenkte sich rasch selbst ein winziges Schlückchen Portwein nach.
«Nur ein kleines Problem», fuhr sie schon fort und hielt ihm ihr Glas hin. «Ich habe keine Ahnung, wer die beiden sind. Habt Ihr sie gesehen? Sie haben irgendetwas davon gesagt, wohin sie noch fahren mussten, aber ich hab’s in der Aufregung gleich wieder vergessen. Als Ihr mit dem Wundarzt am Ufer aufgetaucht seid, standen sie zuerst noch in der Nähe. Ein junger, recht hübscher Mann mit sehr dunklem Haar, er trug keinen Hut. Der andere mag etwa in Eurem Alter sein, er ist stämmiger gebaut als sein Helfer und trug einen alten schwarzen Hut, rund, kein Dreispitz. Darunter sah blondes Haar hervor, ziemlich struppig, glaube ich.»
«Ich denke, ich weiß, wen Ihr meint. Ich habe sie nur kurz gesehen, der Ältere verschwand gerade in der Menge. Während jedermann versuchte, in die erste Reihe vorzudrängen, drängte er sich nach hinten durch, ja. Als später alle weg waren, waren nur die beiden noch da und mussten ihr Fuhrwerk abladen. Der Ältere ist ein Holzplatz-Aufseher auf dem Borgesch in St. Georg. Seinen Namen kenne ich nicht, aber dort draußen kennt ihn sicher jeder. Und das junge schwarze Bürschlein? Hübsch, sagt Ihr?» Wagners Miene verriet, dass er diese Meinung weder teilte noch guthieß. «Den kenn ich nicht, hab ihn nie gesehen.»
«Macht nichts», sagte Rosina, «auf dem Borgesch werde ich ihn schon finden. Ich habe versäumt, mich für meine Rettung zu bedanken, das muss ich unbedingt nachholen. Denkt Ihr nicht auch?»
Anders als Pauline verschwendete Wagner keinen Gedanken daran, wohin Rosina Vinstedt ging. Noch weniger fiel ihm ein, sie zu begleiten.
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