Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Denn dies war wieder so eine Gelegenheit, in der ein Weddemeister womöglich gar nichts herausfand, eine harmlose Frau, ansehnlich und charmant, hingegen sehr viel.
Auf halbem Weg neigte Rosina dazu, Pauline recht zu geben. Sie dachte dabei weniger an ihren Ruf – es war lächerlich, wegen eines Spaziergangs vor die Wälle an einem sonnigen Morgen darum zu fürchten – als an ihre Schuhe. Wie sie es bei einer englischen Dame einmal gesehen hatte, hatte sie sich bis über die Knöchel reichende Lederschuhe anpassen lassen. Das war kostspielig, exzentrisch und selbst bei Regen und Schnee genau richtig für lange Spaziergänge, wenn ihr die Stadt – oder ihr ganzes neues Leben – zu eng wurde. Heute wären die alten Holzschuhe noch nützlicher gewesen.
Als sie das Hauptgewölbe des Steintores passiert hatte, sah sie von dem vorgebauten Ravelin auf die Vorstadt hinunter. Von «Stadt» konnte keine Rede sein, dazu gab es noch zu viele unbebaute Flächen wie eben den Borgesch. Sie schnupperte und fand, sie habe Glück. Der Wind wehte von West und stark genug, um den Gestank von den Schweinekoben und den einige hundert Fuß weiter an der Vorwerkmauer angelegten Abfallgruben fortzuwehen. Trotzdem hing er sogar an diesem kühlen Tag in der Luft. In den heißen Sommermonaten musste er bestialisch sein.
Obwohl die Vorräte nach den besonders langen und harten Winterwochen schmal geworden waren, war der Holzplatz nicht zu verfehlen. Noch lag er ruhig, wenn es jedoch weiter so stark taute, woran jetzt im März niemand mehr zweifelte, sah es dort bald anders aus. Im neuen Holzhafen am Grasbrook wartete ein großer Teil der im Herbst und beginnenden Winter aus dem dichtbewaldeten Südosten elbabwärts geflößten Stämme, und bald kamen die großen Flöße aus den im Winter geschlagenen Bäumen wieder die Elbe herunter – dann wurde es hier laut und turbulent.
Der Holzplatz auf dem Borgesch stand den Zimmerleuten zur Verfügung, die Stämme zu Bauholz zu verarbeiten. Auch Feuerholz wurde hier gelagert und wie am Alsterufer direkt an die Bewohner der umliegenden Straßen verkauft, weil es praktisch war, auch Torf, das Feuerholz der armen Leute und der Küchen, und Reisig. Ohne Holz ging nichts. Die Zeiten, da das meiste aus dem Umland der Stadt kam, waren lange, sogar sehr lange vorbei. Einiges Holz wurde in den umliegenden Wäldern geschlagen, im Vergleich zur Menge der Stämme, die als Flöße aus dem waldreichen Südosten des Reiches und auf Schiffen aus den nordischen Ländern nach Hamburg kamen, dazu die besonderen Hölzer aus Übersee, war das eine geringe Menge. Als Lieferant für Bau- und Brennholz, von Material zur Herstellung von Wagen und Fässern, von Möbeln, Schiffen – von nahezu allem, was Menschen täglich an Gerät und Gefährt brauchten – bot der heimische Wald schon lange nicht mehr annähernd genug. Er war stattdessen zum ausgebeuteten Sorgenkind geworden. Wald wurde ja nicht nur als Holzlieferant gebraucht, ohne ihn gab es auch keine gute Schweinemast und kein Wildbret. Und nicht nur die Dichter, immer mehr Menschen aus der engen, oft stickigen Stadt mit ihrem ewigen Lärm wussten den Aufenthalt in den Wäldern als erholsame Idyllen zu schätzen.
Bei der Großen Allee, durch die Magnus die Stadt verlassen hatte, um beim Zollenspieker mit der Fähre die Elbe zu queren und dann im rasanten Ritt gen Süden zu entschwinden, bog Rosina zum Borgesch ab. Es war ungewiss, ob der Seufzer, der sich aus der Tiefe ihrer Brust löste, sehnsüchtig oder grollend war. Es war nicht der Moment, darüber nachzudenken, denn sie stand schon vor dem Haupttor des Holzplatzes.
In den letzten Jahren war sie einige Male an diesem Tor vorbeigefahren, ohne es je zu beachten. Wer eine lange Strecke gereist war, zudem auf einem mit Theaterutensilien und Hausrat aller Art schwer bepackten Wagen, achtete auf diesem allerletzten Abschnitt der Straße vor der Durchfahrt durch das mächtige Steintor in die innere Stadt kaum auf das, was links und rechts lag. Dann bestimmte der Blick auf die hoch aufragende Befestigung und die sich darüber abzeichnenden Spitzen der Kirchtürme die Blicke und das Denken. Die Gewissheit, endlich am Ziel zu sein, war immer beglückend. Zugleich war es stets unwägbar, wie gründlich und missgelaunt die Soldaten die Wagen und die Reisenden durchsuchen würden. Mal winkten sie die Fuhren nach einem flüchtigen Blick auf die Ladung einfach durch, mal nahmen sie noch das bescheidenste Nadelkästchen
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