Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Zeit, sich zu vergrößern. Stillstand bedeute Niedergang, so sei es nun einmal.
Pauli hatte an seinem Bordeaux genippt, sich die Lippen getupft und erklärt, wer nicht bedenke, dass mit Luxuriösem wie Seide, Samt, auch Taft oder Teppichen, Porzellan und erlesenem Mobiliar auch Träume verkauft werden, werde in diesem Geschäft nur geringen Erfolg haben.
Später – Monsieur Bocholt als ein Mann von säuerlicher Moral hatte die Runde gerade als Erster verlassen, da er am nächsten Morgen mit klarem Kopf in seinem Kontor erscheinen wollte –, ein wenig später also hatte Monsieur Pauli von seinem Problem mit seinem Ersten Schreiber Blanck berichtet, bedauert, dass Hamburg keinen Gesandten in Venedig habe, somit niemandem, dem man in einer so delikaten Sache blind vertrauen könne. Leider wisse er niemand, der willens, in der Lage und zudem absolut vertrauenswürdig sei, sofort und im Eilritt nach Venedig aufzubrechen, die Sache zu klären und von seinem Eigentum zu retten, was noch zu retten war. Blanck könne bleiben, wo der Pfeffer wachse. Aber die Wechsel, die der Kerl offenbar gerade in die eigene Tasche wirtschafte, die hätte er nun wirklich gerne gesichert.
«Es geht nicht gerade um das Bestehen meines Handels, aber man darf das nicht hinnehmen. Es ist eine Schande. Blanck ist der Milchbruder einer der Schwäger meiner Frau, er zählt also so gut wie zur Familie und wird an mir zum Betrüger.»
«Das ist noch nicht erwiesen», hatte Claes Herrmanns vernünftig eingewandt.
«Nein», hatte Pauli zugestanden, «es sieht aber ganz danach aus.»
Eine weitere halbe Stunde später war verabredet, dass Magnus sowohl willens und bereit als auch fähig war, am übernächsten Morgen zu dem winterlichen Eilritt nach der Lagunenstadt aufzubrechen. Es war ein halb spaßhafter Vorschlag von Claes Herrmanns gewesen, doch als der Seidenhändler ihn sofort dankbar aufgriff, fühlte Magnus dieses gefährliche Kribbeln, die Freude bei der Aussicht auf diesen Ritt. Er hatte sich beinahe aufgedrängt – und dabei nicht bedacht, dass er nun eine Ehefrau und einen Haushalt hatte. Die Entschädigung, die Pauli geboten hatte, deckte gerade die Kosten für die Schlafplätze in den Gasthäusern unterwegs und die Miete für die Pferde, wobei er sich, wann immer es möglich war, das beste an den Poststationen verfügbare Tier ausgesucht hatte.
Und nun stand Magnus Vinstedt, die Piazzetta San Marco im Rücken, an Rand der Mole und sah über das grüne Wasser hinüber nach Santa Maria della Salute. Der Blick auf die beiden Kuppeln und Türmchen der mächtigen Kirche faszinierten ihn trotz der Überfülle von Palazzi, Kirchen und Klöstern, von Fassaden und Ausblicken besonders. Vielleicht, weil sie in dieser Stadt, in der das Wasser allgegenwärtig war, prall und doch erhaben den Himmel festhielten. Hunderttausend Pfähle waren vor anderthalb Jahrhunderten in den schwankenden Boden der Inselspitze gerammt worden, um darauf diese grandiose Kirche zu errichten. Er fand das ungemein beeindruckend. Spätestens seit seinem langen Aufenthalt in England, wo großartige Kanäle und Brücken konstruiert und gebaut wurden, auch die unglaubliche Kuppel der St.-Pauls-Kathedrale in London, wo Experimente mit Dampfmaschinen noch erstaunlichere Fortschritte machten, interessierte sich Magnus für die Ingenieurkunst. Keine andere war so verwegen, so riskant, so sehr Wirklichkeit gewordene Magie.
Auch in Hamburg waren viele Gebäude auf Pfählen erbaut worden. Aber das Vertraute wirkt selten beeindruckend, hier löste allein die Vorstellung neue Gedanken aus. All die vielen Bäume, dachte er nun allerdings halbwegs bedauernd und erinnerte sich an die nahezu waldlose Landschaft, durch die er geritten war, bevor er sich von Mestre nach Venedig hatte übersetzen lassen. Nur Maulbeerbäume hatte er in Mengen gesehen, deren Blätter die empfindlichen Seidenraupen ernährten. Wie groß wäre ein Wald von hunderttausend Bäumen? Wie viele solide Stämme, jeder einst ein alter Baum, waren nötig gewesen, um diese Stadt mitten in die Lagune hineinzubauen? Jahrhundert um Jahrhundert?
Es kam ihm plötzlich seltsam vor, als verhielten sich die Menschen kaum anders als gefräßige Raupen: Sie «fraßen» oder eigneten sich begierig und bedenkenlos alles an, was sie für ihre Pläne brauchten.
Er war nun schon drei Tage in Venedig, gleichwohl gab es noch Momente, in denen ihm ein trügerisches Gefühl vorgaukelte, er sei nur Teil eines überdimensionalen
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