Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Pflichtbewusstseins als Bürger dieser Stadt wisse, wer die Tote sei, zumindest wo sie gearbeitet und gewohnt habe. Auch Wagner neigte gelegentlich zu weitschweifigen Formulierungen.
«Eine Frage noch. An der Alster hat sie sich niemand angesehen außer den Leuten, die sie gefunden haben, dem Wundarzt des Militärs, ein paar Soldaten und mir. Es schien auch niemand zu wissen oder nur zu vermuten, wer sie ist. Wieso dachtet ihr, die Tote zu kennen?»
Mette hüstelte rau, murmelte, es werde nun wirklich zu kalt, sie müssten gehen, und war sehr damit beschäftigt, ein neues Loch in ihrem oft gestopften wollenen Schultertuch zu begutachten. Eustach hüstelte auch, leider hatte er kein Schultertuch, auch keinen Umhang, der bei diesem kalten Wetter mehr als angemessen gewesen wäre, dessen Löcher er begutachten konnte.
«Nun», sagte er bedächtig, als habe er erst alle Würde zusammenkratzen müssen, die sein stets kärgliches Leben ihm gelassen hatte, «Euer Ton ist plötzlich schroff, Weddemeister, dabei gibt’s nichts zu wundern. Alle fürchten sich vor Ertrunkenen, das wisst Ihr doch. Die bringen nun mal Unglück. Und wir sind alle arme Leute, wir könn’ uns kein’ Ärger mit den Soldaten leisten. Die stecken einen schnell ins Loch, ob’s rechtens ist oder nicht, und eine Nacht bei denen im Kerker reicht im Winter schon, da hustet man sich die Seele aus dem Leib und ist bald tot, wenn’s der Teufel so will. Wir war’n am Ufer gestern, wo so viele Leute hingerannt sind, sind wir auch hingerannt, weil wo viele sind, kann man was verkaufen. Hat sich aber nicht gelohnt, gestern. Ja, und als …», er schluckte und fuhr steif mit dem Handrücken über die Augen. «Sie war so ’ne freundliche Person, munter und fleißig. Und immer fröhlich, da wurde der Tag hell, wenn sie kam.»
«Nicht immer», wandte seine Schwester ein, «ich mein, nicht immer fröhlich . Da gab’s ein paar Wochen, da war sie – traurig?»
Sie sah ihren Bruder fragend an, und der nickte.
«Traurig, ja. Aber zuletzt nicht mehr, da war sie wieder fröhlich und hat gezwitschert wie’n Pirol im Mai», beharrte er.
Seine Schwester nickte, halbherzig, aber doch zustimmend.
«Ihr habt sie nur von ferne gesehen, wieso habt ihr sie erkannt?»
«Der Rock, Weddemeister», erklärte Eustach aufseufzend, «zuerst der Rock. Der hat genau die Streifen wie die Röcke aller Pauli-Mädchen. Dann die langen blonden Haare, na, und weil sie so nah im Wasser lag, wo sie gewohnt und gearbeitet hat – da dachten wir, wir gucken mal nach. Ist doch eine Schande, wenn sich keiner um sie kümmert. Es hieß ja, sie ist verschwunden. Abgehauen, sagten manche, andere haben gesagt, sie is’ jetzt bei Verwandten von Madam Pauli irgendwo im Süden. Noch hinter Hannover.»
«Und …», sagte seine Schwester, schubste ihn mit dem Ellenbogen und sah ihn auffordernd an, «und …? Wir dachten», fuhr sie selbst entschlossen fort und machte einen geraden Rücken, «es gibt vielleicht eine Belohnung.»
Anders als sonst, wenn diese Frage gestellt wurde, bedauerte Wagner, sagen zu müssen, es sei keine Belohnung auf die Klärung der Identität der Toten ausgesetzt. Nein, gar keine. Er bedauere wirklich.
Die beiden Alten schienen um einige Zoll geschrumpft, als sie in ihren abgelaufenen Holzpantinen die wenigen Stufen aus dem Souterrain hinauf zur Straße stapften. Für einen Moment war Wagner versucht, ihnen nachzulaufen und wenigstens eine kleine Münze aus seiner eigenen Tasche zuzustecken, dann dachte er an Klara, an ihr gemeinsames Kind, an den kostspieligen Kachelofen, von dem seine Frau und auch er selbst träumten. Er war für das karge Leben fremder Leute nicht verantwortlich, und vielleicht ergab sich etwas, vielleicht konnte er die Paulis dazu bewegen, den beiden Alten etwas zukommen zu lassen. Oder – notfalls – Madam Augusta im Hause Herrmanns, die hatte nicht nur ein großes Herz, sondern auch stets ausreichende Mittel für milde Gaben. Natürlich würde er niemals wagen, eine Madam Augusta Kjellerup in dem großen Kaufmannshaus am Neuen Wandrahm anzubetteln, aber er könnte Rosina von den beiden erzählen, nebenbei Madam Augusta erwähnen, Rosina würde lachen und das Anliegen bei passender Gelegenheit und im richtigen Ton weitergeben – gewöhnlich direkt und ohne umständliche Diplomatie.
Dabei vergaß er wie gewöhnlich, dass nun auch Rosina zu denen zählte, die hin und wieder eine milde Gabe erübrigen konnten, wenn auch keinesfalls in
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