Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Jedenfalls nicht, bis sie diese geheimnisvolle Person aufgespürt hatte, von der Madam Hegolt sich offenbar Hilfe erhoffte. Noch hatte sie keine vernünftige Idee, wie sie die finden sollte. Vielleicht phantasierte Madam Hegolt auch nur eine Person aus alter Zeit, so was kam bei Fieber häufig vor. Sie hatte es selbst einmal getan. Und wen konnte sie danach fragen? Da war nur Monsieur Hegolt, doch den zu fragen war gerade in dieser Angelegenheit unmöglich. Hätte seine Frau ihm vertraut, hätte sie nicht ihre Köchin um Hilfe bitten müssen. Plötzlich fröstelte es Alberte. Hier geschah etwas, das nicht geschehen sollte. Etwas, das über ihren Verstand ging.
Aber eines nach dem anderen. Sie wusste noch nicht, wie, doch auf irgendeine Weise sollte es gelingen, die Kinder wenigstens für einige Minuten zu ihrer Mutter zu bringen. Und wenn es auch noch gelang, herauszufinden, wer oder was diese oder dieses «Amaa» war und wo sie suchen sollte, würde sie auch dafür sorgen, dass diese geheimnisvolle Dame das Krankenzimmer betreten konnte. Wenn es eine Dame war. Vielleicht ging es gar nicht um eine Bekannte oder doch eine bisher unbekannte Verwandte, sondern um eine von diesen Frauen, die manche Hexen nannten. Andere sagten weise Frauen oder Heilerin. Überhaupt war das eine bedenkenswerte Idee. Selbst wenn Madam etwas anderes gemeint hatte, konnte es nicht schaden, eine aufzutreiben und herzubringen.
Alberte war mit ihren zweiunddreißig Jahren eine rundum gesunde Person, sie hatte noch nie einen Doktor oder Wundarzt gebraucht, nicht einmal einen dieser Quacksalber, die ihre Dienste auf den Märkten anboten. Die alltäglichen Malaisen wusste sie wie die meisten Frauen selbst zu versorgen, sogar das schwere Fieber vor drei Jahren hatte sie ohne Hilfe solcher Männer überlebt. Oder gerade deshalb, davon war sie tatsächlich überzeugt. Da würde sie eher einer dieser Kräuterhexen vertrauen, manche, so hieß es, vollbrachten Wunder. Daran glaubte Alberte nicht, aber wenn sonst nichts half, war es einen Versuch wert. Sie hatte von einer Alten gehört, die auf dem Hamburger Berg lebte, kurz vor der Stadtgrenze von Altona im Dänischen. Sie gehörte lange genug zum Hegolt’schen Haus, um zu wissen, dass es allemal klüger war, dem Hausherrn gar nicht erst einen solchen Vorschlag zu machen. Diesmal musste sie alleine entscheiden. Und handeln.
Tagsüber hockte der Zerberus von Gouvernante im Lehnstuhl am Fenster, stickte, las in der Bibel, einer anderen erbaulichen Schrift oder heimlich in einem Roman und wachte über die Kranke. Oder wie sonst man es nennen wollte.
Und nachts – nun, nachts war der Ehemann an ihrer Seite.
Sie musste sich etwas einfallen lassen. Ob Kräuterfrau oder eine andere – irgendetwas. Bevor es zu spät war. Der Gedanke schnürte ihr die Luft ab, sie atmete heftig aus, zog den Schlüssel für den Vorratsschrank aus den Tiefen ihrer Schürzentasche und öffnete die obere Tür, hinter der sie auch die Liköre für ihre berühmten Kuchen und Puddings aufbewahrte. Sie entschied sich für den Himbeerlikör. Ein Schlückchen davon, besser zwei oder drei, gaben Alberte stets die förderlichsten Ideen ein. Die brauchte sie jetzt. Unbedingt. Und vor allem rasch.
Mittwochnachmittag
«Ich konnte ihr Gesicht nicht richtig sehen, vielleicht hab ich mich doch geirrt.» Janne Valentins Stimme klang beschwörend. «Kann doch sein, oder? Verdammt, Mine, sag endlich was.»
Wilhelmine Cordes zog behutsam den hauchfeinen seidenen Faden weiter durch den Stoff, bis er – nicht zu stramm, nicht zu locker – am richtigen Platz lag. Es würde noch viele Fäden und geduldige Stiche erfordern, bis die Stickerei als die Blüte eines Anemonenröschens erkennbar war, zu der sie werden sollte.
«Nein», sagte sie dann, immer noch den prüfenden Blick auf ihrem Seidenfaden, «du hast dich nicht geirrt, Janne. Ganz sicher nicht, das weißt du auch.»
«Und woher weißt du das?»
«Es geht längst durch unsere Straßen. Hast du etwa nicht davon gehört?» Sie sah ihr Gegenüber an. Wer sie nicht kannte, würde in diesem Blick nichts lesen. Janne kannte sie gut, zumindest viele Jahre, was nicht immer dasselbe ist, sie wusste, dass dieser ausdruckslose Blick Missbilligung und Zorn bedeutete. Die Missbilligung mochte ihr gelten, der Zorn nicht. So hoffte sie. Früher hatte sie immer deutlich in Wilhelmines Gesicht lesen können, im Laufe der Jahre hatte sich das geändert. So wie auch sie beide und ihrer beider Leben
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