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Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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er welche hatte, was nicht immer der Fall war. Dann strickte er Wollstrümpfe, die seine Frau oder eine seiner vier Töchter mit ihren Strickwaren auf den Märkten verkaufte. Da er längst mit seinen Nadeln aus poliertem Holz hantieren konnte, ohne hinzusehen, erlaubte das Stricken ihm nicht nur, zu hören, was um ihn herum vorging und was man ihm erzählte, sondern es auch zu sehen. Der Flickschuster in der Niederstraße gehörte zu denen, die immer wussten, was in der Stadt vorging, das Wichtige und das Unwichtige, und ihr Wissen wie ihre Überlegungen bereitwillig weitergaben. Das entsprach nicht immer den Tatsachen, aber die menschliche Seele verlangt nach Abenteuer, nach Aufregung, nach Rührung – was also sollte man tun, wenn das tatsächlich Geschehene allzu gewöhnlich war?
    Janne wusste nicht, wie er hieß, aber er war ein freundlicher Mann, was man von manchen, deren Namen sie sehr genau wusste, nicht sagen konnte. Sie hatte sein Angebot, für einen Moment in seiner Werkstatt zu verschnaufen, gerne angenommen. Obwohl dies einer der Tage war, an denen er nur Strümpfe strickte, trug er seine lederne Schürze, seine alte Joppe war dick genug, kaltem Wetter zu trotzen. Unter seinem runden Filzhut mit schmaler Krempe sah nur bis knapp über die Ohren reichendes ergrauendes Haar von der Farbe staubiger Feldmäuse hervor.
    Er saß wie so oft auf einem Hocker in der offenen Tür und hatte für sie den zweiten herangezogen. Sie sahen auf das Gewimmel auf der Straße, und Janne hörte ihm zu, nur mit halbem Ohr, so klang sein Geplauder friedlich wie das Plätschern eines Baches im Sommer. Er erzählte, dass gutes Leder wieder teurer geworden sei, wie meistens am Ende des Winters auch Holz und Torf, was wirklich eine Schande sei. Dass seine Tochter nun eine Stellung gefunden habe, höchste Zeit, sie sei ja schon zwölf, dass manche das Ende der Karnevalszeit verschlafen hätten, gestern Nacht habe er aus dem Fenster gesehen, da strichen just zwei Kerle mit Masken vorbei. In Venedig, hatte ihm der Handelslehrling vom Seidenhändler Pauli erzählt, sei das nach dem Karneval verboten. Aber was wisse schon so ein Jüngelchen, so einer tue sich nur wichtig.
    Seine Worte hatten Jannes nun wieder wachen Geist erreicht, sie überlegte kurz, warum ihr das mit dem Karneval vertraut vorkam, dann dachte sie an die Zeit, dass es bald dunkel sein werde, und wollte aufstehen.
    Nein, sie solle besser noch sitzen bleiben und sich ausruhen, sie sei schon weniger bleich, ein oder zwei Augenblicke mehr, und sie würde sich wieder kräftig fühlen, just wie man es sonst an ihr gewöhnt sei.
    Als sie widersprach und versicherte, sie müsse wirklich weiter, man sorge sich sonst um sie, zeigte er ein verschmitztes Lächeln, was wiederum eine breite Zahnlücke im rechten Oberkiefer sichtbar machte. «Das mag wohl sein», sagte er, «wenn dein Mann schon wieder da ist. Aber wie soll das gehn? Wo die Elbe noch voll Eis ist und kein Schiff durchkommt.»
    Da lachte sie und ließ sich wieder auf den Hocker fallen. Und fragte sich nicht, wieso er so viel von ihrem Leben wusste.
    «Nur ein Schlückchen auf den Weg», raunte er, kniff verschwörerisch ein Auge zu und drückte ihr einen schlanken, gerade eine Handspanne hohen Krug in die Hand.
    Janne zögerte. Trotz des bitteren Geruchs, der daraus aufstieg, hätte sie gerne einen Schluck getrunken, aber hier, wo es jeder sehen konnte? So weit würde sie es nicht kommen lassen. Bei ihrem Glück erkannte sie just in dem Moment einer der Passanten, und Anna würde hören: «Deine Mutter säuft mit dem Flickschuster.» Und Matthes würde man bei seiner Rückkehr schon im Hafen zutragen, seine Frau trinke mit anderen Männern, und alle könnten es sehen.
    Andererseits roch es aus der Flasche eher nach Medizin als nach Fusel. So drehte sie der Straße den Rücken zu, nahm hastig einen tiefen Schluck – und bereute es sofort. Tränen schossen ihr in die Augen, ihr Hals, ihr ganzer Schlund bis hinunter in den Magen stand in Flammen.
    «Was ist das?» Sie rang keuchend nach Luft. «Hexenblut?»
    Der Schuster nahm ihr kichernd das Behältnis aus der Hand, verstöpselte es und umwickelte den alten Kork sorgsam mit gewachstem Band. «Schnaps», erklärte er immer noch grinsend, «nur Schnaps. Selbst gebrannt. Ganz normal. Aber wenn man nichts verträgt …»
    Achselzuckend schob er seinen hochprozentigen Schatz in die Joppentasche.
    «Trotzdem danke.» Janne stand auf, aus dem Feuer in ihrem Innern wurde

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