Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
denn für ihren Geschmack rüttelte und rumpelte es auch so mehr als genug, sie fand es aber überflüssig, das zu erwähnen. Sie freute sich an Mollys Freude, sie hatte nicht bedacht, dass für sie Kutschfahrten etwas Besonderes waren. Ihre Familie war nicht arm, aber gewiss nicht wohlhabend genug für eine eigene Kutsche.
Und nun stand Molly vor dem Portal und starrte zu der segnenden Christusfigur in ihrer Nische über dem Portal hinauf; zu deren Füßen kniete links und rechts je eine Kinderfigur, darüber hielten zwei Putten einen Strahlenkranz.
Als Augusta endlich gegen das Portal pochte, öffnete sich die Tür umgehend, als habe der Pförtner dahinter gestanden und gewartet, was er tatsächlich getan hatte. Madam Kjellerup war angemeldet, und dass ein besonders höflicher, besser noch ehrerbietiger Empfang der erste Schritt auf dem Weg zu einer besonders großzügigen Gabe war, war ein alter Hut. Selbst bei einer als leider unbestechlich geltenden, also für allzu dicke Schmeicheleien unempfänglichen Dame wie Madam Kjellerup, die im Übrigen sowieso nicht zur Kniepigkeit neigte.
Der Ökonom, je nach Vorliebe und Anlass auch weniger offiziell als Waisenvater oder Verwalter des Hauses tituliert, stand ebenfalls bereit, neben ihm seine Ehefrau. Sie übertrieb ein wenig, als ihr Knicks so tief ausfiel, dass sie Mühe hatte, ihren kugelrunden Körper ohne Schwanken wieder aufzurichten. Ökonom Faber war ein hagerer Mann in mittleren Jahren, sein verbindliches Lächeln schien ihn einige Mühe zu kosten, was wiederum bei der Schwere seines Amtes verständlich war.
Dafür erschien seine semmelblonde Ehefrau mit ihren ausladenden Formen, den apfelroten Bäckchen und freundlichen Augen als wahre Verkörperung einer guten Waisenmutter. Ein wenig, fand Augusta bei sich, erinnerte sie an die Frau, die Molly in fünfzehn oder zwanzig Jahren sein mochte.
«Wenn es beliebt, Madam», zwitscherte Waisenmutter Faber, nachdem ihr Gatte die Besucherin mit gesetzten Worten begrüßt hatte, als wäre sie nie zuvor hier gewesen, «wenn es beliebt, ich habe ein kleines zweites Frühstück für Euch vorbereitet, für Euch und Eure Jungfer. Vielleicht nach dem Rundgang? Wenn Ihr es aber vorzieht, sogleich.»
«Danke, liebe Faberin, das ist sehr fürsorglich. Nach dem Rundgang wird uns eine Stärkung guttun. Nicht wahr, Molly?»
Molly stand nicht mehr neben ihr, sie war schon die wenigen Schritte durch die tunnelartige Einfahrt bis zum Hof vorausgegangen und betrachtete aufmerksam wie zuvor die Christusfigur nun den Innenhof und die ihn umschließenden Gebäude. Augusta folgte ihr, ihr selbst wiederum der Ökonom, respektvoll einen halben Schritt zurück. Aus der am Durchgang liegenden Küche roch es nach gekochtem Weißkohl und Ochsenfleisch, wie von jeher an jedem Donnerstag und Sonntag. An den anderen Wochentagen gab es zur Mittagsmahlzeit Grütze von Buchweizen, Reis, Hafer oder Graupen, montags mit grauen Erbsen oder weißen Bohnen angereichert, immer ein Butterbrot dazu, abends zumeist wieder nur ein Butterbrot und die Reste der Grütze. Das beim Fleischkochen abgeschöpfte Fett wurde über das Gemüse gegossen, und im Sommer, wenn sie verfügbar waren, der Weißkohl durch gelbe Wurzeln ersetzt. Das Frühstück bestand aus einem Becher Milch und einem Stück Brot. All das war in den Statuten genau festgeschrieben. Zurzeit wurde darüber verhandelt, ob es der Gesundheit der Kinder zuträglich, sogar für sie notwendig sei oder sie nur verweichliche, wenn man ihnen zumindest im Winter am Morgen ein warmes Getränk bewillige. Die Kinder sollten satt werden, zugleich von jeglicher die Moral und die Gesundheit verderbenden Völlerei bewahrt.
Augusta glaubte nicht, dass Molly, anders als sie selbst, um die Speiseplanprobleme in diesem wie stets überfüllten Haus wusste, irgendetwas berührte sie. Wohl die Enge und die fest verschlossene Tür in dem großen Portal, die beim Schließen schauerlich hinter ihnen gequietscht hatte.
Die hinter den roten Mauern herrschende drangvolle Enge war seit Jahrzehnten ein immer wieder debattiertes Problem. In den Annalen des Waisenhauses befanden sich jahrzehntealte Anträge, in denen immer wieder dringlich um Abhilfe gebeten worden war. Erst vor wenigen Jahren hatte der Rat nun ein Areal auf dem Wall zwischen Stein- und Deichtor zur Verfügung gestellt, zu dem die Kinder in manierlichen Reihen geführt werden konnten, um sich dort in frischer Luft zu tummeln.
Was hatte Molly gesagt? Wie im
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