Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
des Rats, Seine Magnifizenz Schuback, diese Empfehlung unterstützt hat. Auf das Urteil der hohen Herren kann man jederzeit vertrauen, unbedingt. Alles zum Besten der uns anvertrauten Schützlinge.»
Dabei machte er ein Gesicht, als verspeise er eine versalzene Suppe, sein Blick ging schnurgerade am rechten Ohr des neuen Lehrers vorbei zum Fenster hinaus, dorthin, wo just in diesem Moment die Morgensonne hoch genug geklettert war, um von der Straße hereinzuscheinen. Das Licht fiel auch auf das Gesicht des jungen Mannes, der für einen Lehrer, also einen Mann mit geringer Reputation und ebensolchem Einkommen, einen recht eleganten Samtrock trug. Allerdings zeigten die Ärmel unübersehbar abgewetzte Stellen. Er stand in halber Verneigung vor dem bedeutenden Besuch, ließ die eher beleidigende als lobende Vorstellung durch den Ökonomen mit angespannten Schultern und eingefrorenem Lächeln über sich ergehen.
Augusta war gekommen, um das Haus zu sehen, das Leben darin, die Kinder. Nun interessierte sie sich am meisten für diesen Präzeptor. Ein wirklich hübscher Mensch. Und überaus nervös, kaum wegen des Ökonomen. Nach ihrem Eintreten hatten seine Augen für einen Moment einen verwirrten Ausdruck gezeigt, obwohl er ohne Zweifel auf ihren Besuch vorbereitet war. Womöglich hatte er es vergessen? Sicher nicht. Augusta ahnte den Grund und hätte sich gerne vergewissert. Doch jetzt hieß es nicht fragen, sondern zuhören.
In ihrer Erwartung des angekündigten Gesangs sah sie sich enttäuscht, damit würden sie später die Mädchen im oberen Stockwerk ehren. Hier wurden die Kopfrechenkünste einiger der älteren Knaben demonstriert, was sie durchaus unterhaltsam fand. Das anschließende Auswendigaufsagen von längeren Abschnitten des Katechismus und lateinischen Texten musste sie leider mit der Bitte unterbrechen, man möge ein Fenster öffnen, besser zwei. Mit Unterstützung der eindringenden Morgenluft wusste sie die Leistungen der Kinder endlich angemessen zu schätzen und mit freundlich aufmunterndem Nicken zu honorieren. Wenn es auch etliche Jahrzehnte her war, dass sie die gleichen Worte und Kapitel auswendig gelernt hatte, die meisten wusste sie immer noch im Geiste mitzusprechen.
Als Dame und Mitglied der guten hanseatischen Gesellschaft verstand sie sich nach jahrzehntelanger Übung perfekt auf die Kunst, ein so interessiertes wie aufmerksames Gesicht zu zeigen, wenn ihre Gedanken meilenweit entfernt waren. So bemerkte niemand, dass sie jetzt weniger mögliche Fehler bei der Deklamation der Jungen beschäftigten als zwei ganz andere Dinge.
Zum einen überlegte sie, wie man diesen Kindern möglichst rasch zu mehr Raum verhelfen könne, insbesondere unter freiem Himmel. Sie hatte den Hof heute mit Mollys Augen und deren Unbefangenheit gesehen und so zum ersten Mal wirklich die Enge gespürt. Er maß etwa fünfzehn Schritte in der Länge und in der Breite, es war unmöglich, alle Bewohner des Hauses auch nur darauf zu versammeln, von Rennen und Toben gar nicht erst zu reden. Und das Leben auf zu engem Raum war nicht nur ungesund, es führte stets zu Bosheit und Gewalt.
Zum anderen, und dahin gingen ihre Gedanken ständig zurück, hatte sie in Sylvester Steding den Mann wiedererkannt, mit dem Molly gestern zur Zeit der beginnenden Dämmerung auf der Straße so eifrig gesprochen hatte. Aber vielleicht irrte sie, denn Mollys Miene war ungerührt, nicht das kleinste Zeichen des Erkennens, der Bekanntschaft, erst recht kein mädchenhaftes Erröten mit flatternden Wimpern über gesenktem Blick. Augusta schalt sich eine sentimentale Gans, trotzdem hätte sie zu gerne gewusst, ob sie irrte oder nicht. Ob und wenn nicht, was diesen jungen Mann, der sich vor dem gestrengen Blick des Ökonomen bemühte, seine Schüler möglichst vorteilhaft vorzuführen, mit Molly verband. Nach einer Angelegenheit des Herzens – was Augusta eindeutig favorisiert hätte – sah es nicht aus. Wonach dann? Sie musste sich gedulden, für Fragen würde später Zeit sein.
Es wäre übertrieben, zu behaupten, in den Gängevierteln wäre der Fund einer Toten etwas Alltägliches. Es stimmte, hier wurde schnell und oft gestorben, denn hier hausten die Ärmsten der Stadt in den übelsten Gassen der Stadt. Aber auch etliche, die sich bessere Wohngegenden leisten konnten, bevorzugten diese Gegend, gerade weil diese labyrinthischen Quartiere in den Kirchspielen von St. Michaelis und St. Jakobi als undurchdringlich galten, fühlten sie sich
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