Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
schon wohlige Wärme. Nur ihr Hals fühlte sich wunder an als zuvor. «Was so brennt, muss eine gute Arznei sein. Es war nur der erste Moment. Jetzt ist mein Leib hübsch warm.»
So kam es, dass Janne Valentin das letzte Stück ihres Heimweges doch in der Dunkelheit ging. Es war kalt und Halbmond, der Himmel fast klar, die Nacht würde nicht ganz dunkel werden. Doch der Mond, dieser tröstliche Geselle in schweren Nächten, begann seine Wanderung erst und stand noch hinter den Dächern. Vielleicht lag es an der «Arznei», vielleicht an der freundlichen Geselligkeit des Schusters, Janne fühlte sich leichter, immer noch schwach, zugleich weniger krank. Selbst die Dunkelheit schreckte sie wenig, die Straßen lagen noch nicht verlassen, und die Lichter hinter den Fenstern schenkten ihren warmen Schein auch denen draußen. Trotz ihrer Müdigkeit schwirrten ihre Gedanken, ein bisschen konfus, zugleich hellwach. Als hätten sie geduldig im Hintergrund gewartet, solange sie bei dem Schuster saß, plauderte und das Treiben auf der Straße beobachtete.
Sie schwirrten zu Wanda, zum Anblick der Toten, wie sie aus dem Eis gehoben wurde. Wie plötzlich ihr Haar herabhing. Das war der schlimmste Moment gewesen. Das Leben war so rasch, es schien ihr wie gestern, als sie sieben gewesen waren, Kinder noch. Waren sie überhaupt je Kinder gewesen? Kleine Mädchen mit Zöpfen und zerschrammten Knien, wie sie es bei ihrer Tochter erlebt hatte. Doch, Schrammen hatte es gegeben, sogar genug. Und, mein Gott, wie schnell sie gewesen war! Wenn es darauf ankam, konnte sie rennen, flitzen, sich auch unsichtbar machen. Sie kicherte im Weitergehen und wurde wieder traurig.
Sieben. Das war eine Zahl gewesen, die ihr gefallen hatte. Obwohl der Diakon auch ausführlich von den sieben Hauptsünden gesprochen hatte, dachte sie bei dieser Zahl von jeher lieber an sie als an das Symbol für den siebten Tag der Schöpfung, an den Tag der Vollendung und der Fülle. Auch dies hatte der Diakon sicher erläutert, sie kannte sich gut genug, um zu wissen, dass ihr so etwas nicht selbst einfiel. Dafür merkte sie sich viele Sachen, die ihr im Leben Rat gaben und weiterhalfen. Wie die Sache mit der Sieben. Sie waren sieben gewesen, also konnte es nur gut und richtig sein. Sie waren es nicht geblieben. Der Tod hatte sich geholt, was er wollte. Wen er wollte. Warum auch nicht? Das tat er immer. So war der Lauf der irdischen Welt. Als Erste Elfchen, das zarte Elfchen, viel zu zart für das Leben, das auf sie gewartet hatte.
Es war so lange her und nicht nur in Wilhelmine, auch in ihr war immer noch ein kleiner beharrlicher Schmerz, wenn sie an Elfchen dachte. So wie nun ein großer, stechender hinzugekommen war. Wie eine neue Wunde. Sie waren auseinandergeflattert, damals, das war traurig gewesen, aber richtig. Jede war ihren Weg gegangen, sieben so unterschiedliche Wege. Aber Wanda war ihr nah geblieben, auch wenn sie einander nicht allzu oft gesehen hatten.
Ihre Gedanken schwirrten rasch weiter, zu der Hoffnung auf Arbeit in den schönen Malthus’schen Gärten, zu den Leuten, die jetzt noch mit Masken durch die Straßen gingen (sie war sicher, der Schuster hatte sie nur foppen oder ängstigen wollen), zu ihrer Lieblingsvorstellung, nämlich wie sie zu Hause von Matthes erwartet wurde, er war doch schon gekommen, natürlich mit Jakob, sie waren beide wieder da. Eine Kerze brannte, das Feuer loderte und wärmte, im Topf darüber blubberte eine dicke Suppe mit viel Speck. Ach, ein schöner wärmender Traum.
Dann weiter zu Wilhelmine, so sauber und akkurat, so fleißig, so – unberührbar? Nicht ganz, die Erinnerung an Elfchen berührte sie stark. Immer noch.
Janne überquerte die Steinstraße, sprang beiseite, als eine schlammbespritzte zweispännige Kutsche zu schnell heran- und vorbeirollte, und blieb schwer atmend und wütend stehen. Fast hätte sie eine ihrer Holzpantinen verloren. Unter den schweren Rädern wäre sie sofort zerbrochen. Auf der breiten Straße mit den vielen Gasthöfen und Wirtshäusern, Bier- und Branntweinkellern herrschte noch reger Betrieb. Als Janne in den Berckhof einbog, immerhin eine Gasse, in der sich zwei Fuhrwerke begegnen konnten, ohne ihre Räder ineinander zu verkeilen, schwand der Lärm schlagartig wie unter einer dicken Wolke. Auch glomm hier nur hinter wenigen Fenstern ein Lichtschein, weder Kerzen noch Öl gab es umsonst.
Plötzlich fühlte sie sich zurück in der realen Welt. Das war eine Welt mit Kälte und
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