Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
Gefängnis.
Ganz verkehrt war das nicht, wenn auch die Waisen, die das Pech hatten, anstatt hier im Werk- und Zuchthaus zu landen, sehr viel besser wussten, was es hieß, wirklich im Gefängnis zu leben.
Alles, was den Tag zu einem guten, frohen gemacht hatte, verblasste, und Augusta begann, sich schon angestrengt zu fühlen. Ihr Blick folgte dem der jungen Frau an ihrer Seite durch den gepflasterten Innenhof, kletterte die Fassaden drei Etagen hinauf bis zum Dach, glitt auch über die Kirchenfenster zur Linken und zurück in den Hof. Augusta gehörte zu den kritischen Geistern, sie neigte zu beharrlichen und unbequemen Fragen, was sie nicht überall beliebt machte. Ob sie wollte oder nicht, heute sah sie die ganze Anlage mit den Augen der empfindsamen Molly und beschloss, ihrem behäbig gewordenen Neffen Beine zu machen. Das fast hundert Jahre alte Gebäude war nicht nur zu klein, es war marode. Die Debatte um den längst überfälligen Neubau schleppte sich nun schon seit Jahren dahin, ohne wirklich voranzukommen, obwohl am Gänsemarkt ein passendes neues Grundstück erworben worden war. Höchste Zeit, das Zaudern zu beenden, Entscheidungen zu fällen und zur Tat zu schreiten.
«Es ist so still», sagte Molly, «wie kann das sein? Bei so vielen Kindern?»
«Disziplin, Jungfer Runge! Wir halten auf Disziplin.» Ökonom Faber hatte Mollys Bemerkung als Lob missverstanden und nickte zufrieden. «Das ist uns allen selbstverständlich. Jetzt ist Schulzeit, da wird gebetet, gelernt, geübt, auch gesungen. Psalmen zuförderst, Ihr werdet später noch Singen hören. Wenn Ihr wünscht», wandte er sich an Augusta, «auch sofort. Zuerst möchte ich Euch in den unteren Schulsaal führen, gleich hier, hinter der Küche, was nützlich ist, denn die Schulsäle sind zugleich die Speisesäle für die Kinder. Wie Ihr wisst, haben wir zu wenig Raum, ja, viel zu wenig, da muss alles gut genutzt werden, zumeist doppelt. Jedes Kind hat im Saal seinen Platz, da gibt es kein Gerangel. Wenn Ihr erlaubt, Madam, eile ich voraus.»
Was er umgehend tat. Er öffnete eine schmale Tür zwischen dem Küchentrakt und einer in den Hof gebauten Kammer, die dem Hausknecht als Wohnung diente und Damen und Herren, die an die Bequemlichkeit eines großen Bürgerhauses gewöhnt waren, nur als ein Kabuff erscheinen musste, und führte seine Besucherinnen in ein enges Treppenhaus – alles schien hier eng oder schmal. Eine Stiege führte hinauf zum zweiten Schul- und Speisesaal, eine schmale Tür daneben zu dem Parterre-Schulsaal, im dem wohl einhundertsechzig Jungen den größeren Teil des Tages eng beieinanderhockten und lernten. Oder lernen sollten.
Er öffnete die Tür, rief: «Aaaachtung», und einer großen Welle gleich erhoben sich alle Jungen aus den Bänken, das Gesicht starr nach vorne auf den Lehrer gerichtet, nur die ganz Verwegenen drehten verstohlen den Kopf, um zu schauen, für wen sie heute besonders stramm stehen mussten.
Eine alte Dame und ihre – ja, was? Zofe? Wahrscheinlich. Nach Tochter oder Enkelin aus reichem Haus sah das Gewand der Jüngeren nicht aus. Nur zwei Frauen – da musste man gleich nicht mehr ganz so stramm stehen.
Die Luft war zum Schneiden dick, und der Geruch der etwa hundertfünfzig Jungen, die insbesondere in einem so harten Winter nicht allzu oft mit Wasser in Berührung kamen, nahm ihnen den Atem. Obwohl sie es lieber vermieden hätte, musste Augusta gerade jetzt tief Luft holen. Der Ökonom zog den Lehnstuhl heran, der extra für diesen Besuch herbeigeschafft und bereitgestellt worden war, nötigte sie, Platz zu nehmen, und stellte ihr Sylvester Steding als den Präzeptor der Klasse vor, den Lehrer.
«Steding ist erst ein halbes Jahr bei uns», erklärte er, «doch er hat seine überragenden pädagogischen Talente schon bewiesen und ist auch recht gebildet.» An dieser Stelle legte er die gespreizten Finger an den Spitzen gegeneinander, hob sie schwungvoll vor die Brust und wippte einmal auf den Zehen auf und ab, bevor er fortfuhr: «Genau genommen über die Anforderungen einer solchen Schule hinaus.» Umso mehr müsse seine Bereitschaft gelobt werden, diesen letztlich nur Gott und der Mildtätigkeit der Bewohner dieser Stadt befohlenen Kindern die wichtigsten Kenntnisse zu vermitteln. «Gleichwohl, nun ja, gleichwohl ist man dem inzwischen zum neuen Provisor erwählten Monsieur Hegolt für die Empfehlung und Vermittlung ungemein dankbar, das ist man wirklich. Besonders, da der verehrte zweite Syndikus
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