Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
hier sicher auch vor den für Ruhe, Recht und Ordnung sorgenden Garnisonssoldaten. Also lebten hier auch manche mit recht einträglichen Geschäften, die jedoch kaum als honorig bezeichnet werden konnten. Die Gängeviertel galten vielen ehrbaren Bürgern als ein Ärgernis, als stinkende Pestbeulen im Herzen der übervölkerten Stadt, umso übler, als die Grundstückspreise ebenso stiegen wie die Mieten, nämlich rasant. Das Niederreißen dieser Viertel wäre ein Gewinn, auch für die Moral, die in einem ordentlichen Gemeinwesen niemals vernachlässigt werden sollte. In dieser Hinsicht waren der Rat und die Bürgerschaft von seltener Einigkeit. Erst recht in heißen Sommerwochen, wenn der ohnedies kaum noch erträgliche Gestank besonders im Umfeld dieser Viertel noch übler wurde.
Nun gut, die dort lebenden Menschen würden die Beseitigung dieser «Eiterbeulen» als Beseitigung ihres Lebensraumes empfinden, andere, nämlich teurere Wohnungen konnten sie sich nicht leisten. Das war bedauerlich, andererseits zeugte es auch von wenig Fürsorge der Obrigkeit, sie weiter in diesem Dreck leben zu lassen. Dummerweise waren es einfach zu viele, um sie irgendwohin umzusiedeln, zum Beispiel auf den noch öden Hamburger Berg zwischen dem Millerntor und Altona. Dazu hätte es neuer Häuser bedurft, vieler neuer Häuser mit vielen bescheidenen Wohnungen, deren Mieten diese armen Schlucker niemals bezahlen konnten.
So blieb alles, wie es war, und zumeist verborgen, was in den Tiefen der Gänge und Höfe geschah. Dass an diesem frühen Donnerstag trotzdem eine Tote gefunden wurde, lag an zweierlei. Zuerst an den Ratten, die an einer bestimmten, am Rande des Viertels liegenden Stelle erregt quiekend zusammenliefen, zugleich versuchte eine ganze Meute dürrer struppiger Hunde, sie mit Einsatz ihrer Reißzähne und sich heiser überschlagendem Gebell zu vertreiben. Was Mühe kostete, denn Ratten sind Akrobaten, sie entern ein Segelschiff über ein Festmachertau; die Balken der Ruine waren für sie also kein echtes Hindernis. Die Hunde schienen den Kampf zu gewinnen, was Kenner beider Spezies erstaunt hätte, die umkämpfte Beute würden sie trotzdem nicht erreichen.
Denn das war der zweite Grund, warum der Leichnam gleich im Morgengrauen gefunden wurde, anstatt auf welche Weise auch immer auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden: Irgendwer, wahrscheinlich ihr Mörder, hatte sich die Mühe gemacht, die Tote etwa eine halbe Etage hoch – in dem verfallenden Gebäude war das schwer zu entscheiden – zu hieven und so auf einen quer verlaufenden Balken zu platzieren, dass sie nicht hinunterfiel. Es musste tatsächlich erhebliche Mühe gemacht haben, erst recht in der Dunkelheit. Wer immer das getan hatte, kannte sich hier aus. Oder hatte Glück gehabt – wenn man bei einer solchen Untat von Glück sprechen mochte. Die Röcke der Toten waren hochgerutscht, die Beine unschicklich entblößt. Es sah nach Absicht aus.
Als der herbeigerufene Weddemeister Wagner eintraf und sich mit der Autorität seines Amtes durch die vor und auch in dem engen Gang drängenden Gaffer geschoben hatte, bot sich ihm ein Bild wie aus einem Albtraum: die Tote auf dem schrägen Balken, zu ihren nicht mehr ganz vollständigen Füßen wohl ein Dutzend zerfetzter Rattenkadaver, dazwischen ein erschlagener blutbesudelter Hund, ein großes Tier mit räudigem schwarzem Fell. Nun war Wagner froh, dass er keine Zeit für ein Frühstück gehabt hatte.
Der Anblick einer Erwürgten, das war es, was er dort in halber Höhe erkannte, war übel genug, die Tierkadaver zu ihren Füßen, von denen einer von scharfen Nagerzähnen angefressen war – das war zu viel.
Dies war einer der seltenen, wirklich sehr seltenen Momente, in denen er Frauen beneidete. Die durften bei einem solchen Anblick in Ohnmacht fallen, sogar Weinkrämpfe bekommen, zumindest erschüttert die Augen schließen. Ein gewöhnlicher Mann durfte immerhin Übelkeit empfinden, ein Weddemeister hatte stark und unberührt zu bleiben, einzig interessiert und wachsam.
Er durfte sich nicht einmal mitleidig abwenden, sondern musste ganz nah herantreten, damit ihm nichts entging. Jedenfalls wenn er sein Amt ernst nahm und entschieden gegen das Verbrechen antrat, wenn er Schuldige aller Art zu fangen und ihrer gerechten Strafe zuzuführen gedachte.
Die zweite, durch fremde Hand Gestorbene in einer Woche. Das kam nicht alle Tage vor, jedenfalls kam es der Wedde selten zu Ohren. Grabbe, sein Weddeknecht, und drei Helfer
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