Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
ihres Dienstherrn zu leben. Augusta wusste, dass das nicht immer gelang. Das eine oder andere Mädchen wurde auch länger hierbehalten, weil es sich als besonders geschickt im Umgang mit den Jüngeren und den anfallenden Arbeiten erwiesen hatte.
Was manchen gut gefallen mochte. Augusta und der neben ihr immer stiller gewordenen Molly mochte dieses Haus nicht unbedingt als erstrebenswertes Heim erscheinen, für die Mehrzahl dieser Kinder war es jedoch das einzige Zuhause, das sie je gehabt hatten oder haben konnten. Wer nicht bei Kosteltern in der Stadt oder auf dem umliegenden Land untergebracht gewesen war, dem war die Welt außerhalb dieser Mauern fremd. Da gab es nur den jährlichen Waisengrün-Umzug durch die Stadt mit den Sammelbüchsen und dem folgsamsten Kind an der Spitze, im Sommer bei schönem Wetter am Sonntagnachmittag einen Spaziergang, immer hübsch manierlich in festen Reihen, und wer besonderes Glück hatte, durfte für den Waisenvater einen Botengang erledigen oder nach alter Sitte gar bei Hochzeiten und anderen Familienfeiern das Dienstmädchen begleiten, das die Einladungen verteilte, und ein Trinkgeld annehmen. Wer zu spät zurückkehrte, wurde bestraft, nur zum eigenen Besten und in Maßen. Denn der Waisenvater sollte ein Zuchtmeister sein, kein Schinder. So stand es jedenfalls geschrieben.
Alles in allem bedeutete das, die meisten der hinter diesen roten Backsteinmauern lebenden Kinder durften das große Portal selten passieren, kaum unbeaufsichtigt die Freiheit schmecken. Und sei es nur eine kleine, so wie Kinder eben eine Straße entlang oder über einen Platz hüpfen, am Hafen die Schiffe bewundern, auf dem Jahrmarkt die Stände voller Waren und Leckereien, die Menschen und Tiere, die Akrobaten und Sänger, auf den Flüssen Boot fahren – das ganze bunte aufregende Treiben.
Immer wieder gelang es Kindern, zu entlaufen. Sie flüchteten aus der Enge, dem Drill der Erziehung, aus Angst vor einer Strafe oder nach einer Strafe, zum Beispiel einer der Festigung des Charakters förderlichen Leibstrafe oder der üblichen drei Tage im finsteren Keller bei Wasser und Brot, wie es in den Vorschriften stand.
Ängstlichere Gemüter mochten hingegen jenseits der Mauern weniger Freiheit und Abenteuer, überhaupt das eigentliche Leben vermuten und herbeisehnen, sondern sich vor dem Fremden und Ungewissen fürchten. Auch vor der Einsamkeit.
Der Mädchenklasse stand eine Lehrmutter vor. Augusta wunderte sich nicht, als sie auf den Bänken mehr Näh- und Strickarbeiten sah als Papier, Tinte und Feder oder gar Bücher. Die Klasse der Mädchen war auch kleiner. Für sie fanden sich leichter Koststellen, und natürlich wurden sie nur kürzere Zeit im Rechnen und Schreiben unterrichtet. Bevor sie und Molly den Unterrichtssaal betraten, hatte Ökonom Faber seine Gäste durch einige kleinere Räume geführt, in denen etwa drei Dutzend Mädchen mit der Flachsspinnerei beschäftigt waren.
«Warum sind sie nicht bei den anderen im Unterricht?», fragte Augusta.
«Nun, gnädigste Madam», erklärte der Ökonom mit zufriedenem Lächeln, «wie Ihr wisst, sind wir gehalten, die Kinder auf das Leben vorzubereiten. Das ist unsere größte Pflicht, damit sie später nicht den milden Gaben aus dem Gotteskasten zur Last fallen, sondern sich ehrbar und mit ihrer Hände Arbeit ernähren können. Das will geübt und gelernt sein. Bis vor vier Jahren haben unsere Mädchen Strümpfe gestrickt, doch die Spinnerei ist ertragreicher, ja, auch wenn wir extra eine darin erfahrene Frau einstellen mussten, die den Mädchen das Nötige beibringt. Das Gesponnene wird verkauft, unsere Schatulle braucht jeden Pfennig.»
Zugleich sollten sich die Kinder an der Arbeit für die Gemeinschaft beteiligen, so lernten sie, für sich selbst und für andere zu sorgen. Auch gebe es so keinen Müßiggang, der verderbe nur den Charakter.
«Diese hier», Faber neigte sich Augusta vertraulich zu, «sind brav und emsig. Einige haben schon alles gelernt, was ein Mädchen in der Schule lernen sollte. Da wäre es doch Verschwendung, sie weiter müßig dort herumsitzen zu lassen, nicht war? Einige andere – lasst es mich so sagen: Bei den mit wenig Verstand gesegneten Geschöpfen lohnt weiterer Unterricht erst recht nicht. Völlig vergeblich, ja. Die meisten dieser Art helfen für gewöhnlich in der Wäscherei, in der Küche und beim Reinmachen, all diese Arbeit muss getan werden und erfordert viele Hände. Unsere armen Waisen leisten brav ihren Teil,
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