Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
hatten die Leiche bewacht, bis Wagner eingetroffen war. Sie hatten alle Hände voll damit zu tun gehabt, zuerst die gierigen Tiere zu vertreiben, dann die Neugierigen zurückzuhalten.
«Holt sie endlich da runter», knurrte er, «und zwar bevor die Ratten und Hunde mit Verstärkung zurückkommen.»
«Tja», Grabbe kratzte sich im spärlichen Haupthaar, «das dachte ich schon, sie is’ aber ganz steif.»
«Das ist bei Toten für gewöhnlich eine Zeit lang so», blaffte Wagner. «Du bist lange genug bei der Wedde, du musst das eigentlich wissen. Holt sie runter, legt sie auf die Karre, deckt sie gut zu. Einwickeln, sehr fest einwickeln, sonst habt ihr gleich eine ganze Kompanie Ratten, Hunde und wer weiß was noch für geiferndes Viehzeug im Gefolge, und bringt sie ins Eimbeck’sche Haus . Zu der anderen. Und ihr», wandte Wagner sich an die Leute, «ihr verschwindet. Es bringt Unglück, einer fremden Toten zu nahe zu kommen. Wisst ihr das nicht? Also worauf wartet ihr? Verschwindet!»
Die Warnung vor einem ominösen Unglück zeigte keinerlei Wirkung, vielleicht weil davon außer bei Ertrunkenen noch niemand gehört hatte, nicht einmal Wagner selbst. Besser wirkte eine in diesem Viertel stärker empfundene Warnung: «Von jedem, der hier bleibt, wird der Namen notiert, sofort, und … Halt!», schrie er plötzlich, als die Menge sich umgehend in Bewegung setzte, reckte sich auf die Zehenspitzen und blickte grollend über die Köpfe. «Wer die Tote kennt, bleibt natürlich hier und gibt Auskunft. Alle anderen – abmarschiert.»
Der Gang war im Handumdrehen leer, es sah zwar nur so aus, als seien alle verschwunden – tatsächlich hockte mindestens die Hälfte der Menge hinter Fenstern, Mauerlöchern, Luken und Türen und beobachtete von dort das Geschehen weiter –, aber das war Wagner egal. Er hatte den Leuten nicht ihren Spaß verderben, sondern nur Ruhe und Platz haben wollen.
Drei Frauen waren geblieben, weil sie die Tote kannten. Angeblich. Es gab meistens welche, die sich wichtig tun wollten oder einfach ein bisschen verrückt waren.
Die drei standen dicht nebeneinander an die gegenüberliegende Wand gedrückt und glichen sich so sehr, dass es überflüssig war, zu erklären, sie seien Schwestern. Alle drei waren hager und in diesem Alter, das man weder jung noch alt nennt, sie trugen ehemals dunkelblaue, nun dünn und heller gewaschene und geschabte, halbwegs reinliche Röcke und Blusen und schwarze Schultertücher. Ihr Haar war glatt und von undefinierbarem Braun, die Augen in den blassen Gesichtern grau. Nur die Mittlere unterschied sich von ihren beiden verdrießlich wirkenden Schwestern. Ihr ganzer Ausdruck war sanfter, und sie blickte zutiefst betrübt aus vom Weinen geröteten Augen.
«Sie schuldet uns vier Stücke Torf und eine halbe Kerze», begann die links Stehende und wies mit dem Kinn auf die Tote.
«Fünf. Es waren fünf Stücke», verbesserte die auf der anderen Seite. «Und zwar von der großen Sorte. Wer gibt uns die jetzt zurück?»
«Schämt euch», sagte die Mittlere mit erstickter Stimme. «Wie könnt ihr jetzt von Torf reden? Janne ist tot. Versteht ihr das nicht? Sie ist tot . Unsere Nachbarin. Sie war ein guter Mensch. Ein wirklich guter Mensch.»
Ihre beiden Schwestern machten schmale Lippen, beide schwiegen und verschränkten zugleich die Arme vor der Brust.
Egal, was er jetzt über diese Tote namens Janne erfahren würde, wenigstens hatten diese drei sie tatsächlich gekannt. Dass sie in ihrer Beurteilung ihrer Nachbarin uneins waren, konnte von Vorteil sein. Gewöhnlich erfuhr Wagner die interessanten, die wirklich wichtigen Dinge leichter, wenn zwei sich stritten. Oder gar drei. Die Mörderinnen hatte er hier nicht vor sich, das sagte ihm seine Erfahrung. Die Trauer der Mittleren war echt, und die anderen beiden hätten zuerst dafür gesorgt, dass ihr zukünftiges Opfer seine Schulden beglich.
Fünf Stücke Torf und eine halbe Kerze. Das Leben konnte schrecklich deprimierend sein, fast so sehr wie der Tod.
Es roch immer noch nach Schminke und Kulissenfarbe, nach den geheimnisvollen Mixturen, mit denen Rudolf seine Feuerwerke zauberte, nach dem Qualm von feuchter Kohle, den die Laterna magica in aufsteigende Geister verwandelte, dem Kolophonium für die Bögen der Violinen, Celli und Gamben, nach …
Einbildung, alles pure Einbildung. Hier roch es nur nach Staub und den Pferden, die im noch als Stall genutzten Gebäudeteil standen, und nach etwas Undefinierbarem.
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