Die Schwestern vom Roten Haus: Ein historischer Kriminalroman (German Edition)
hell ihre Stimme in diesem Raum trug, wie – nun, das mit der Stimme war überflüssig. Während der vergangenen, nur scheinbar lange zurückliegenden Jahre war sie oft genug hier aufgetreten, sie wusste, wie erstaunlich gut der Klang in diesem Raum trug.
«Na gut», murmelte sie, raffte tief Luft holend die Röcke und sprang die kurze hölzerne Treppe zur Bühne hinauf. Dann stand sie oben, sah die Kulissengassen und die Wachsreste vom Rampenlicht, sah über ihrem Kopf eine alte, von der letzten hier gastierenden Gesellschaft vergessene Soffitte mit abblätternder himmelblauer Farbe, den dürftigen, keinesfalls mit dem ausgeklügelten im großen Theater beim Gänsemarkt vergleichbaren Schnürboden, erinnerte sich, dass es hier keine Unterbühne gab und die Kulissen einzeln mit der Hand gedreht und geschoben werden mussten, und wusste wieder, warum sie die Bühne nicht gleich betreten hatte.
Denn plötzlich fühlte sie sich so wunderbar leicht wie zurückgekehrt ins richtige Leben, und just das war es, wovor sie Angst gehabt hatte. Es war ein gefährliches Gefühl, auch das wusste sie, so verlockend wie trügerisch. Es musste bekämpft werden – und zuerst gründlich genossen. Vielleicht lag es nur daran, dass sie in diesem Moment die Augen halb schloss, um ganz bei ihrem Gefühl, diesem Anflug von Glück zu sein, dass sie das Gesicht hinter einer der schmutzigen Scheiben nicht wahrnahm. Ein Gesicht mit abwägenden, neugierigen Augen. Ihre Füße fanden ganz von selbst die Tanzschritte, ihre Stimme eine der vertrauten, lange nicht mehr gesungenen frivolen Melodien, leise nur, vorsichtig, kaum mehr als gesummt – bis ein Räuspern sie zusammenfahren ließ, heftig, als habe sie eine Elektrisiermaschine berührt, und Hitze in ihr Gesicht schoss. Aus irgendeinem Grund war sie für eine Sekunde überzeugt gewesen, Magnus stehe dort unten – mit anklagendem zweifelndem Blick.
Aber Magnus war weit weg. Es war nur Weddemeister Wagner. Weder er noch Rosina bemerkten die Bewegung hinter der Scheibe, dort, wo das Gesicht des Beobachters von Rosinas Tanzschritten mit Wagners Eintritt hastig verschwand.
Augusta lauschte dem Gesang der Mädchen, es war die reinste Belohnung für die Konzentration auf die zuvor vorgetragenen Psalmen und Sinnsprüche, denn die Kinder sangen schön. Sogar lieblich, fand Augusta, die im Ruf stand, so musikalisch zu sein wie ein Ackergaul. Sie mochte Musik, sie besuchte sogar gern Konzerte, selbst wenn sie so lange dauerten wie die Predigten in den Hauptkirchen, und zwar nicht nur, um Freunde zu treffen und in den Pausen neuen Klatsch auszutauschen, das ließe sich auch anlässlich der Gottesdienste erledigen.
Der Klassenraum der Mädchen befand sich in der oberen Etage des Waisenhauses und war wie bei den Jungen zugleich der Speisesaal. Durch die fünf Fenster, drei zur Straße und zwei zum Hof, fiel helles Tageslicht. Als sie den Raum betreten hatten, hatte Molly erschreckt geflüstert: «Die sehen ja alle gleich aus!» Was natürlich nicht stimmte, aber auf den ersten Blick tatsächlich so schien. Alle Mädchen, es mochten etwa achtzig oder hundert sein, trugen blaue Kleidung, vom Haarband über den Schnürleib bis hinunter zu den Strümpfen. Bei den Jungen war es ebenso gewesen, aber weder ihr noch Molly so sehr aufgefallen. Augusta war lange mit dem Waisenhaus vertraut, sie wusste um die strikte Kleiderordnung, in der auch penibel festgelegt war, wann es neue Kleider gab, wann neue Schuhe, sogar wann die von wem geputzt wurden.
«Was sind das für Zeichen auf den Blusen?», fragte Molly weiter, als sie ein ineinanderverschlungenes W und H auf der Tracht einiger Mädchen entdeckte.
«Eine seit der Gründung hilfreiche Sitte», erklärte Ökonom Faber eifrig, «sehr hilfreich und zugleich gute Erziehung. Für jeweils zehn Kinder, bei den Jungen wie bei den Mädchen, wird immer eines bestimmt, das für Ordnung, Sauberkeit, auch für eine reinliche und tadellose Kleidung verantwortlich ist. Jeder Riss, jedes Löchlein, ein verlorenes Band, alles muss gleich gemeldet werden. Am Zeichen sind diese Kinder sofort für jedermann zu erkennen, für mich, für die Aufsicht und für die Herren vom Rat und die Provisoren bei ihren Besuchen, ja, und auch für die anderen Kinder.»
Die jüngsten der Mädchen mochten fünf oder sechs Jahre alt sein, das älteste vielleicht siebzehn. Eigentlich hatten die Kinder das Waisenhaus nach der Konfirmation zu verlassen, um eine Arbeit anzunehmen und im Haus
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