Die Schwestern von Sherwood: Roman
Bruder. Auf einem anderen Bild war George in jüngeren Jahren an der Seite einer hübschen Frau zu erkennen. Das Bild war etwas unscharf. Melinda stellte ihr Weinglas ab und nahm es interessiert in die Hand. Ob das seine Frau gewesen war? Hinter ihr knackte es im Kamin. Sie stellte das Foto wieder ab und streckte die Hand nach ihrem Glas aus. Zu spät merkte sie, dass sie es nicht richtig gegriffen hatte. Wein schwappte auf die Schreibtischplatte, und Melinda konnte das Glas gerade noch auffangen, bevor es ganz umkippte. Dabei stieß sie jedoch gegen den Aktenstapel, und einige der obersten Unterlagen gerieten ins Rutschen und fielen vom Tisch. Sie unterdrückte einen Fluch, wischte mit ihrem Taschentuch eilig den Wein fort und blickte, während sie sich bückte, besorgt zur Tür. Was würde George von ihr denken, wenn er jetzt hereinkam? Warum hatte sie auch so neugierig sein müssen? Sie sammelte rasch die Akten wieder ein.
Aus einer Mappe waren mehrere Papiere herausgerutscht – und ein Foto. Sie griff danach, um es zurückzulegen, und erstarrte. Das konnte nicht sein! Doch es bestand kein Zweifel – die Frau, die darauf zu sehen war, war sie selbst! Das Bild war in Berlin aufgenommen worden. Sie eilte irgendwo die Straße entlang.
Ihre Kehle schnürte sich zu. Weshalb hatte George ein Foto von ihr aus Berlin? Was hatte das zu bedeuten? Sie schlug die Akte auf. Ungläubig blickte sie auf die erste Seite, denn ihr Name prangte dort. Melinda Leewald, geboren 14. Juni 1920 . Darunter stand ihre Adresse in Berlin. Eine Kopie des Wohnungsamtes lag bei. Sie schlug fassungslos die Seite um und hatte einen Brief von der britischen Besatzungskommandantur vor sich. Melinda überflog ihn. Er gab Auskunft darüber, dass sie dort als Übersetzerin arbeitete und als politisch unbelastet galt. Ihr Gesicht wurde blass. Wieso hatte George all diese Informationen über sie? Sie schlug schnell die nächsten Seiten um, auf denen weitere Details über sie standen. Ganz hinten klemmten zwei Zeitungsausschnitte in der Akte. Es überraschte sie nicht einmal, dass sie alt waren – sie stammten aus dem Jahr 1897 und berichteten über den Tod der beiden Sherwood-Schwestern, wie Melinda mit einem schnellen Blick erkannte. Sie riss sie intuitiv heraus, faltete sie in Windeseile zusammen und ließ sie in ihrer Handtasche verschwinden.
Vom Flur her war ein Geräusch zu hören. So schnell sie konnte, legte sie die Akte zurück und war mit einem Satz wieder am Esstisch. Ihr Puls raste.
»Alles in Ordnung?« George schenkte ihr einen prüfenden Blick.
Sie nickte. Warum hatte er diese Informationen über sie? Sie musste hier weg. Sofort!
»Ich habe etwas Kopfschmerzen bekommen. Wahrscheinlich war doch alles ein wenig viel.« Sie zwang sich zu einem gespielten Lächeln. »Würde es dir etwas ausmachen, mich zurückzufahren?«
»Nein, natürlich nicht.« Überrascht schaute er sie an. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
Nichts war mehr in Ordnung, dachte sie, doch sie nickte nur und erhob sich von ihrem Stuhl. »Ja, ich bin nur sehr müde und brauche einfach etwas Schlaf.« Melinda merkte selbst, dass ihr Tonfall unnatürlich hohl klang.
»Ich hole deinen Mantel.«
Die Fahrt zurück verlief schweigend. Immer wieder wanderte sein Blick fragend zu ihr.
Als er vor dem Postbridge Inn hielt, drehte er sich zu ihr. »Hätte ich dich nicht küssen sollen?«
Seine sanfte Stimme war zu viel. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass er fähig war, solch ein doppeltes Spiel zu treiben. Er hatte ihr etwas vorgemacht, die ganze Zeit gewusst, wer sie war, und gezielt Informationen über sie gesammelt, während er so tat, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt. Und sie war auch noch so dumm gewesen, ihm zu vertrauen. Melinda merkte, wie ihr die Tränen in die Augen traten, und sie stieg eilig aus, ohne seine Frage zu beantworten. Es gelang ihr gerade noch, ein hastiges »Gute Nacht« über die Lippen zu bringen, bevor sie vor ihm ins Postbridge Inn floh.
CATHLEEN
82
Paris, Herbst 1895
C athleen fuhr schweißgebadet aus dem Schlaf hoch. Sie brauchte einen Augenblick, um sich in der Dunkelheit daran zu erinnern, dass sie nicht zu Hause in England, sondern in Paris war. Benommen schlüpfte sie aus dem pompösen Himmelbett und trat zum Fenster, um den Vorhang ein Stück zur Seite zu ziehen. Es war noch mitten in der Nacht, doch das Mondlicht warf einen hellen Schein in das prunkvolle Hotelzimmer.
Sie hatte von Amalia geträumt.
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