Die Schwestern von Sherwood: Roman
ihr dagegen mit einem künstlichen Lächeln übers Haar. »Wir wollten es dir nicht gleich sagen, aber du wirst ein bisschen hierbleiben. Es ist besser für dich. Glaub mir«, sagte sie mit ihren übertriebenen Lippenbewegungen. »Hier sind mehr Menschen, die so sind wie du …«
Wie sie? Panik ergriff sie. Edward – er wusste nicht, dass sie hier war!
Sie schüttelte heftig den Kopf und wollte an ihrer Mutter vorbei aus dem Zimmer. Entsetzt prallte sie an der Tür zurück. Ein Mann in einem Kittel hatte sich ihr entgegengestellt.
»Miss!« Er schenkte ihr das gleiche freundliche Lächeln, das man einem Schwachsinnigen schenkte, der nicht wusste, was er tat.
Als sie sich an ihm vorbeidrängen wollte, hielt er sie mit eisernem Griff fest. Sie spürte, wie eine entsetzliche Angst in ihr hochstieg, und drehte sich zu ihren Eltern um. Nein, bitte. Das könnt ihr nicht machen … Flehentlich blickte sie sie an.
Der Mann im Kittel bedeutete ihren Eltern, das Zimmer zu verlassen. Ihre Mutter nickte und zog ihren Vater mit sich. Das Letzte, was Amalia sah, war sein Gesicht – die Tränen in seinen Augen und das Schuldgefühl! Dann schloss sich die Tür hinter ihnen.
Ein Schrei kämpfte sich in ihrer Kehle nach oben. Der Pfleger verstärkte schmerzhaft seinen Griff. »Beruhigen Sie sich, Miss!«
Sie versuchte sich zu wehren. Nein. Sie wollte hier nicht bleiben. Edward …
Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass ein zweiter Mann im Kittel ins Zimmer trat, der ein Glas mit einer milchigen Flüssigkeit in der Hand hielt.
Die Männer sprachen miteinander – doch so schnell, dass sie die Worte nicht von ihren Lippen lesen konnte. Dann drehte ihr der erste Pfleger plötzlich die Arme auf den Rücken. Voller Panik spürte sie, wie das Glas an ihre Lippen gedrückt wurde und einer der Männer ihr die Nase zuhielt. Sie schnappte nach Luft und merkte, wie die Flüssigkeit, die einen bitteren Nachgeschmack hatte, ihre Kehle hinunterrann. Sie hustete und schluckte. Doch die beiden kannten kein Erbarmen und ließen sie erst wieder los, als das Glas geleert war. Nur Augenblicke später überkam sie eine bleierne Müdigkeit, und sie merkte, wie ihr die Sinne schwanden.
99
A ls sie wieder zu sich kam, befand sie sich in einer Art Krankenzimmer. Eine Schwester huschte zwischen den Betten hin und her. Sie fühlte sich benommen, und ihr Kopf schmerzte. Erst dann hatte Amalia sich erinnert, was geschehen war. Die Panik kehrte schlagartig zurück. Sie fuhr hoch und wollte aus dem Bett springen, doch ihr Kreislauf war nicht stabil. Alles drehte sich um sie, und im selben Augenblick war die Krankenschwester auch schon bei ihr und hielt sie fest. »Nicht, Miss!«
Sie versuchte sich zu wehren – sie musste hier fort. Edward wartete auf sie, dachte sie erneut. Die Angst verlieh ihr für kurze Zeit ein wenig Kraft. Die Krankenschwester schrie etwas, und unter ihren Füßen spürte Amalia die Vibration von schweren Männerschritten, als auch schon die Tür aufgerissen wurde und die beiden Pfleger auf sie zustürzten. Erneut flößte man ihr ein Medikament ein, und sie fiel abermals in einen tiefen Schlaf.
Tage schienen vergangen zu sein, als sie das nächste Mal zu sich kam. Es war dunkel, und sie hatte jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Ihre rechte Hand war an das Metallgitter des Betts festgebunden, merkte sie. Sie sah die Gesichter ihrer Eltern vor sich, wie sie sie in dem Heim bei den Pflegern zurückgelassen hatten. Warum hatten sie das getan? Sie weinte leise und dachte an Edward und an Cathleen. In Strömen liefen die Tränen über ihre Wangen. Niemals zuvor hatte sie sich so einsam und verlassen gefühlt. Irgendwann schlief sie schließlich vor Erschöpfung wieder ein.
Als sie das nächste Mal erwachte, saß ein Mann an ihrem Bett. Er trug einen eleganten Anzug mit einer Weste, in deren Tasche das Ende einer goldenen Kette verschwand. Ein schmaler Schnurrbart zierte seinen Mund. Er blickte sie freundlich an und sagte etwas zu der Krankenschwester, die daraufhin eilfertig ihr Handgelenk losband. Etwas an der Art, wie sie das tat und dabei nickte, verriet Amalia, dass der Mann Macht und Autorität besaß. Sie rieb sich vorsichtig die Hand.
Der Mann beugte sich zu ihr. »Können Sie von den Lippen lesen, Miss?«
Sie nickte.
»Gut. Ich bin Dr. Graham und Leiter von St. Mary’s Home. Sie müssen sich beruhigen! Vorher können Sie nicht von der Krankenstation herunter. Es liegt an Ihnen!«
Amalia griff nach Block und Stift,
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