Die Schwestern von Sherwood: Roman
regelmäßig ein Schneider und Schuhmacher, sondern auch ein Arzt und ein Geistlicher in das Heim kamen. Wenn sie etwas brauchte oder wünschte, sollte sie es einen der Pfleger oder Schwestern wissen lassen. Ihre Angehörigen hätten einen ausreichenden Geldbetrag für sie auf einem Konto hinterlegt, damit sie an nichts Mangel leiden müsse.
Natürlich! Wahrscheinlich hatte ihr Vater dem Heim über diesen Betrag hinaus auch eine großzügige Spende zukommen lassen, dachte Amalia voller Bitterkeit. Sie verstand plötzlich, dass in St. Mary’s Home vor allem deshalb ein solch eleganter und luxuriöser Anschein erweckt wurde, damit die Familien, die ihre Angehörigen hier zurückließen, so wenig Schuldgefühle wie möglich verspürten. Waren die anderen Insassen genauso abgeschoben worden wie sie?
»Nun, wie Sie sehen, versuchen wir Ihnen das Leben hier so angenehm wie möglich zu machen. Allerdings haben wir einige strikte Regeln. Dazu gehört auch, dass Sie sich hier in keiner wilden Zeichen- oder Gebärdensprache verständigen dürfen und dass Sie nach einer gewissen Eingewöhnungszeit Unterricht bekommen werden, um das Sprechen wieder zu erlernen.«
Amalia hoffte inständig, sie habe die Worte von seinen Lippen gerade falsch verstanden.
Dr. Graham, der ihre Reaktion bemerkte, tätschelte ihr die Schulter und lächelte. Schon jetzt hasste sie die Überheblichkeit, die in seinem Blick lag. »Keine Angst, Sie werden etwas Geduld haben müssen, aber mit der Zeit werden Sie das Sprechen wieder lernen. Wir haben hervorragende Lehrer hier.«
Wie zur Bestätigung öffnete er die Tür zu einem der Unterrichtsräume. Ein junges Mädchen saß dort auf einem Schemel vor einem Sprachlehrer und machte Lautübungen.
Als Amalia den Mann erblickte, der sie unterrichtete, erstarrte sie. Ein Schwindelgefühl ergriff sie, und sie wünschte sich nur noch weit weg von hier. In all den Jahren, in denen sie dieses Gesicht mit seinem zu einem Schlund geöffneten Mund in ihren Albträumen verfolgte, hatte sie diesen Mann nie vergessen. Es war Mr Beans!
Der kurze Augenblick der Hoffnung, er würde sie nicht erkennen und sie vielleicht im Laufe der Zeit einfach vergessen haben, zerschlug sich unmittelbar, als sich ihre Blicke trafen. Der stille Triumph und die Genugtuung, die sich in den Zügen von Mr Beans spiegelten – als hätte er seit Jahren nur auf diesen Moment gewartet –, jagte ihr einen Schauer eisiger Kälte über den Rücken. Amalia war nicht mehr in der Lage, Dr. Grahams Lippenbewegungen zu folgen. Nur am Rande bekam sie noch mit, dass sich das, was der Heimleiter sagte, in irgendeiner Weise auf den Lehrer und seine herausragenden Fähigkeiten bezog. Dafür nahm Amalia das Mädchen wahr, das der Lehrer losgelassen hatte. Es war vielleicht fünfzehn, höchstens sechzehn Jahre alt – mit einem hübschen, noch kindlichen Gesicht und großen, bernsteinfarbenen Augen. Die Anspannung und Angst, die sich in seiner Haltung und seinem Gesicht zeigten, erinnerten Amalia unwillkürlich an sich selbst. Sie ahnte, was das Mädchen durchmachte, und sie musste an sich halten, um nicht zu ihm zu gehen und es in die Arme zu nehmen.
Mr Beans war einen Schritt auf sie zugekommen. Ein kaltes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Willkommen in St. Mary’s Home, Amalia!«
101
D r. Grahams Büro strahlte eine gediegene Eleganz aus. Bücherregale und ein großer Schreibtisch aus poliertem Edelholz, goldgerahmte Gemälde und ein Teppich auf dem Boden vermittelten eine private Atmosphäre. Man hätte glauben können, zu Besuch bei wohlhabenden Freunden zu sein, doch Amalia machte sich keine Illusionen. Hinter der stilvollen Fassade von St. Mary’s Home regierte Dr. Graham mit eisernen Hand und liebte seine Macht.
Sie versuchte, ihre Nervosität zu verbergen, als sie beobachtete, wie er las, was sie ihm geschrieben hatte. Eine schlaflose Nacht lag hinter ihr, in der sie überlegt hatte, was sie tun sollte, und am Morgen hatte sie schließlich beschlossen, das Gespräch mit dem Heimleiter zu suchen.
Dr. Graham zwirbelte nachdenklich seinen Schnurrbart und blickte auf.
»Sie möchten also keinen Unterricht, Amalia? Sie möchten nicht sprechen lernen?«
Sie nickte und nahm, während sie die Worte von seinen Lippen las, nicht zum ersten Mal zur Kenntnis, dass er sie einfach beim Vornamen nannte.
Er schüttelte den Kopf. »Nun, ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht erlauben, Amalia. Es ist wichtig, dass Sie sprechen, und ein großes
Weitere Kostenlose Bücher