Die Schwestern von Sherwood: Roman
die anderen persönlich aufzusuchen, dachte sie. Sie wählte die nächste Nummer – erneut ohne Erfolg. Auch die junge Frau, die sich dort meldete, kannte keinen Barry Sandfort.
Ein wenig resigniert rief sie den nächsten Anschluss an. » Sandfort«, meldete sich eine Stimme.
»Guten Tag, mein Name ist Melinda Leewald. Mein Anruf mag Ihnen vielleicht etwas ungewöhnlich erscheinen …«, begann sie genau wie bei den Anrufen zuvor und erklärte dem Mann ihr Anliegen.
Einen Moment lang war es am anderen Ende still. »Barry Sandfort, sagten Sie? Verzeihung, aber erlauben Sie mir die Frage, weshalb Sie auf der Suche nach Hinterbliebenen von ihm sind, Miss?«
Melinda, die innerlich damit gerechnet hatte, erneut abgewimmelt zu werden, horchte augenblicklich auf. »Ich recherchiere einen Fall, über den Mr Sandfort kurz vor seinem Tod zwei Artikel im Daily Chronicle veröffentlicht hat. Eine unaufgeklärte Familiengeschichte«, erklärte sie. »Sind Sie mit Mr Sandfort verwandt?«, fragte sie vorsichtig.
Erneut war es kurze Zeit still in der Leitung. »Ja, ich bin sein Sohn. Soll das heißen, Sie recherchieren über die Sherwood-Schwestern?«, fragte die Stimme des Mannes überrascht.
Wie Melinda erfuhr, war sein Name Roger Sandfort. Er sei zehn Jahre alt gewesen, als sein Vater 1897 ums Leben kam, berichtete er ihr und erklärte sich überraschenderweise sofort bereit, sich mit ihr zu treffen. Sie verabredeten sie sich für den kommenden Nachmittag in einem Café am Piccadilly Circus.
Roger Sandfort musste jetzt einundsechzig Jahre alt sein, rechnete Melinda insgeheim nach, und obwohl der gepflegte grauhaarige Mann – der als Erkennungszeichen seinen Hut auf einer quergefalteten Times vor sich auf dem Tisch liegen hatte – einige Jahre jünger aussah, kamen ihr plötzlich Zweifel, als sie ihn sah. Was sollte ihr jemand, der damals ein Kind von zehn Jahren gewesen war, schon berichten können?
»Ich erinnere mich an meinen Vater nicht mehr besonders gut«, bekannte Sandfort wie zur Bestätigung, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Wie kommt es, dass Sie sich nach so vielen Jahren mit einer alten Angelegenheit wie dieser Sherwood-Geschichte befassen?«
»Es ist im Grunde eine persönliche Familienangelegenheit«, erklärte Melinda ehrlich und berichtete ihm in kurzen Worten von ihrer Großmutter und davon, was sie bei den Nachforschungen über sie herausgefunden hatte.
»Dann lebte Amalia Sherwood damals also tatsächlich noch!« Er musterte sie verblüfft und nippte an seinem Tee.
Melinda nickte. »Woher wissen Sie eigentlich von ihr?«
»Nun, mein Vater hatte in seinen letzten beiden Artikeln, die er veröffentlichte, darüber berichtet und sich in seinen letzten Recherchen vor allem mit ihr beschäftigt. Ich selbst erinnere mich natürlich nicht mehr daran, aber meine Mutter sprach sehr häufig darüber. Sie war über viele Jahre wie besessen davon. Sie ist nie richtig über den Tod meines Vaters hinweggekommen und war der festen Überzeugung, dass er keinen Unfall gehabt, sondern ihn jemand von den Klippen gestürzt hätte …« Sandfort rührte nachdenklich ein Stück Zucker in seinen Tee. Melinda sah ihm an, dass ein Teil seiner Kindheit von diesen Erlebnissen überschattet worden war.
»Weshalb war Ihre Mutter so überzeugt davon? Weil Ihr Vater Lord Hampton in seinen Artikeln verdächtigt hatte?«
Sandfort schüttelte den Kopf. »Nein, nicht allein deswegen, sondern wegen der Recherchen, die mein Vater damals gemacht hat. Sehen Sie, er hatte sich ursprünglich nur mit den beiden Todesfällen der Sherwood-Schwestern beschäftigt, weil er einem anonymen Hinweis nachgegangen war. Das hat meine Mutter zumindest immer erzählt, und dann fand er plötzlich heraus, dass Amalia Sherwood tatsächlich noch lebte. Deshalb war er an die Ostküste gereist.«
»Er hat Amalia, ich meine, meine Großmutter, dort gesehen?«
»Nein, aber er war auf eine Spur von ihr gestoßen.«
Melindas Herz schlug plötzlich schneller. »Hat Ihre Mutter Ihnen auch erzählt, was für eine Spur das genau war?«
Roger Sandfort blickte sie an. Schließlich nickte er. »Ja, es war ein Heim …«
AMALIA
98
St. Mary’s Home, Herbst 1895
F ast drei Wochen waren vergangen, doch noch immer erschien es ihr, als wäre das Schreckliche und Unfassbare eben erst geschehen. Sie hatte nichts geahnt. Nicht einmal bei ihrer Ankunft hier. Wie auch? Von außen war es auf den ersten Blick ein schönes Haus gewesen – es hatte die Größe
Weitere Kostenlose Bücher