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Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
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Versäumnis, dass man Sie nicht von Kind an unterrichtet hat. Das Denken kann sich nur über das Sprechen entfalten. Es wird wie eine Befreiung für Ihren Geist sein. Glauben Sie mir, das werden Sie erkennen, sobald Sie die ersten Fortschritte machen«, sprach er mit langsamen Lippenbewegungen und einem Gesicht, das sich ihr in einer Maske glatter Freundlichkeit präsentierte, an der sie wie an einer Mauer abprallte.
    Amalias Hände verkrampften sich.
    »Im Übrigen ist es auch der Wunsch Ihrer Familie, dem ich nachkomme. Sie möchte, genau wie ich, dass Sie sich in unserer Gesellschaft verständigen und integrieren lernen.«
    Ein aufgebrachter Ausdruck flammte in Amalias Augen auf. Sie unterdrückte den Impuls, erneut den Stift zu nehmen und Dr. Graham zu fragen, wofür. Schließlich hatten ihre Eltern sie in ein Heim abgeschoben und alles dafür getan, sie von der Welt zu isolieren.
    Das Gesicht des Heimleiters ließ sie indes erkennen, dass es kein Entkommen gab. Sie erinnerte sich, wie brutal die Pfleger ihr das Beruhigungsmittel eingeflößt hatten, und zweifelte nicht daran, dass Dr. Graham, falls sie sich widersetzte, Mittel und Wege finden würde, sie zum Sprechunterricht zu zwingen. Erneut griff sie nach dem Block.
    Ich kann nicht bei Mr Beans Unterricht nehmen!
    Dr. Graham lächelte knapp, als er das Geschriebene las. Er wirkte nicht sonderlich überrascht. »Sie meinen, weil Sie sich von früher kennen? Das hat er mir erzählt – und auch dass Ihre Eltern damals nicht konsequent genug waren und Sie sie dazu gebracht haben, dass der Unterricht eingestellt wurde.« Seine Brauen zogen sich bei den letzten Worten tadelnd nach oben. Amalia verspürte Übelkeit. Voller Ohnmacht begriff sie, dass Mr Beans ihr zuvorgekommen war. Alles, was sie nun erzählen würde, musste in den Ohren des Heimleiters unglaubwürdig klingen. Es würde wie eine Ausrede wirken, als wolle sie nur dem Unterricht entgehen. Niemals würde ihr Wort gegen das von Mr Beans Bestand haben.
    »Ich werde Ihnen noch einige Tage zur Eingewöhnung lassen. Ihr Unterricht wird erst nächste Woche beginnen. Sie werden sehen, Mr Beans ist ein hervorragender Lehrer!«, formt e Dr. Grahams Mund die Worte. Er erhob sich zum Zeichen, dass das Gespräch damit für ihn beendet war, von seinem Stuhl.
    Betäubt verließ Amalia sein Büro.
    Später im Speisesaal sah sie, wie Mr Beans, der am anderen Tischende neben dem Aufsichtspersonal saß, sie beobachtete. Als sie sich auf den Weg zurück zu ihrem Zimmer machte, stand er im Flur auf einmal unerwartet vor ihr.
    »Habe ich dir nicht gesagt, dass wir uns eines Tages wiedersehen werden? Ich hoffe in deinem Interesse, dass du inzwischen etwas einsichtiger geworden bist, Amalia.« Er war so dicht an sie herangetreten, dass sie seinen schlechten Atem riechen konnte. Wie früher hatte er sie einfach mit eisernem Griff an den Schultern gefasst, sodass sie nicht umhinkam, das, was er sagte, von seinen Lippen lesen zu müssen.
    Hasserfüllt blickte sie ihn an. Er lächelte dunkel, als freute er sich schon jetzt auf den Widerstand, den sie ihm entgegensetzen würde. Als er sie endlich wieder losließ und weiterging, griff Amalia Halt suchend nach dem Fensterbrett neben sich. Angst und ohnmächtige Wut darüber, dass sie Mr Beans erneut ausgeliefert war, kämpften in ihr.
    In diesem Augenblick spürte sie, dass sie jemand ansah. Sie drehte sich um. Auf der anderen Seite des Flurs stand die Gestalt eines Mannes. Schon eine ganze Weile schien er sie beobachtet zu haben. Es war einer der anderen tauben Insassen. Er war älter, Ende zwanzig, schätzte sie und war Amalia bereits im Speisesaal aufgefallen, denn er hinkte, und sein Gesicht war auf der linken Seite vollständig von einer Brandwunde entstellt, die nur das Auge ausnahm. Die andere Hälfte seines Gesichts dagegen enthüllte, dass die Natur ihn durchaus vorteilhaft bedacht hatte. Er strahlte eine ungewöhnliche Ruhe und innere Kraft aus, die im Gegensatz zu seiner gezeichneten Erscheinung stand und sich auch nicht verlor, als er hinkend auf sie zukam und dabei, begleitet von der Mimik seines Gesichts, die Hände und Arme bewegte. Alles in Ordnung? Geht es dir gut?
    Die Gebärden, die er machte, waren schnell und anders als die, die sie mit Cathleen verwandt hatte, doch Amalia verstand ihn. Sie nickte, obwohl sie innerlich noch immer zitterte.
    Er musterte sie prüfend aus seinen grauen Augen, bevor er erst auf sich und dann auf ihre Person deutete. Ich bin Gordon.

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