Die Schwestern von Sherwood: Roman
keinen Zweifel. Sie hatte sie gesehen. Er unterdrückte ein Stöhnen. Es war ein unentschuldbarer Fehler, dass er die Unterlagen hier hatte herumliegen lassen, aber der Abend war schließlich anders geplant gewesen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er mit Melinda hierherkommen würde. George versuchte, den Ablauf in seinem Kopf zu rekonstruieren. Sie musste die Akte entdeckt haben, als er hinausgegangen war, um den Wein zu holen. Das war der einzige Moment, in dem sie allein im Raum gewesen war. Was ihn zu der interessanten Frage brachte, weshalb sie in der kurzen Zeit überhaupt zu seinem Schreibtisch gegangen war und es dann auch noch geschafft hatte, dort die Unterlagen zu entdecken. Mit einem Mal ergab alles einen Sinn – ihr seltsames Verhalten, als sie ihn plötzlich so abrupt darum bat, sie zurück in die Pension zu fahren, der Abschied, bei dem sie aus dem Auto geflüchtet war, und schließlich ihre Reaktion, als sie ihn auch noch bei Henry Tennyson gesehen hatte. Bei der Erinnerung daran, wie sie auf einmal in Hampton vor der Tür gestanden hatte, verfinsterte sich sein Blick. Er fragte sich noch immer, was um Gottes willen sie dazu gebracht hatte, dort aufzutauchen. Es war mehr als leichtsinnig. Unterschätzte sie Tennyson derart? Er hatte ihr gedroht und sie angegriffen. George Clifford musste allerdings zugeben, dass ihm ihr Mut imponierte und es ihm eine Freude gewesen war mitzuerleben, wie der Hausherr bei ihrem Anblick um Fassung rang. Ganz offensichtlich hatte Tennyson sich getäuscht, wenn er glaubte, sie so einfach einschüchtern zu können. In der zarten Statur dieser Frau steckte eine Kämpferin. George hatte unwillkürlich wieder das Bild von ihr vor Augen, wie sie in Berlin mit leicht erhobenem Kinn durch die vom Krieg zerstörten Straßen gelaufen war. Von Anfang an hatte sie etwas an sich gehabt, das ihn berührte.
Nachdenklich nahm er das Foto von ihr in die Hand. Er erinnerte sich, wie er sie geküsst hatte, wie sie mit diesem verletzlichen Ausdruck neben ihm im Wagen gesessen hatte. Es würde schwierig werden, ihr alles zu erklären. Er hatte an ihrem entsetzten Blick bei Tennyson nur zu deutlich gesehen, was sie dachte. Warum musste die ganze Situation nur so kompliziert sein?, fragte er sich erneut.
Ein Geräusch hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Als er sich umdrehte, sah er, dass sein Vater ins Wohnzimmer gekommen war. Der alte Mann blickte über seine Schulter auf das Foto in seinen Händen.
»Bist du sicher, dass du weißt, worauf du dich da einlässt?«, fragte er ruhig.
George blickte ihn überrascht an. Er überlegte, wann sein Vater das letzte Mal einen Kommentar zu seinem Privatleben abgegeben hatte. Es war lange her. »Ich denke schon.«
Sein Vater ließ sich in dem alten Lehnstuhl nieder. Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Man würde denken, dass sie nach ihrer Großmutter und Mutter kommt, aber sie ähnelt ihm. Sie ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.«
George schwieg und erinnerte sich, wie sein Vater Melinda angestarrt hatte, als er sie, nachdem er sie draußen im Nebel im Moor aufgelesen hatte, hierherbrachte. »Weißt du, was damals wirklich mit den beiden Sherwood-Schwestern geschehen ist?«, fragte er ihn plötzlich.
Sein Vater blickte einen Augenblick in das Kaminfeuer, bevor er schließlich nickte. Sein Gesicht wirkte mit einem Mal müde. »Ja. Es war ein echtes Drama. Ich habe erst später nach und nach erfahren, was sich abgespielt hat.«
97
A m anderen Ende der Leitung war ein Freizeichen zu hören, und dann meldete sich eine Stimme.
Melinda atmete tief durch. »Guten Tag, mein Name ist Leewald. Mein Anruf mag Ihnen möglicherweise etwas ungewöhnlich erscheinen, aber ich bin Journalistin und auf der Suche nach Hinterbliebenen von Barry Sandfort, einem Redakteur, der 1897 für den Daily Chronicle geschrieben hat … Ach, der Name sagt Ihnen nichts. Danke.«
Melinda ließ entmutigt den Hörer sinken. Es war bereits der sechste Anruf. Sie befand sich in dem privaten Büro von Mrs Finkenstein, die darauf bestanden hatte, dass sie ihr Telefon und ihr Büro für ihre Recherchen nutzen sollte. Laut der Londoner Adressbücher, die die Bankdirektorin ihr zur Verfügung gestellt hatte, gab es zwanzig Sandforts. Neun von ihnen besaßen einen Telefonanschluss. Melinda hatte mit ihnen angefangen. Wenn keiner der Sandforts, die ein Telefon hatten, mit dem Journalisten verwandt war, würde ihr wohl oder übel nichts anderes übrig bleiben, als
Weitere Kostenlose Bücher