Die Schwestern von Sherwood: Roman
Geld, das sie eigentlich für ihre wöchentliche Lebensmittelration hätte ausgeben müssen. Doch es war ihr gleichgültig – sie musste das Buch haben. Aufgewühlt verließ sie den Laden.
Auf dem Weg nach Hause versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Es war lange her, doch sie erinnerte sich plötzlich wieder genau. Sie war vielleicht zehn Jahre alt gewesen, und ihre Mutter saß an ihrem Bett und las ihr aus einem dicken englischen Buch eine Geschichte vor. Es war eine der unheimlichen Sagen oder Märchen, die Melinda so sehr liebte. Eng an ihre Mutter geschmiegt, lauschte sie, wie diese ihr von Feen und Kobolden, von Hexen und Geistern erzählte. » Weitab von jeder Stadt und jedem Dorf gab es in der Grafschaft von Devon ein dunkles Moor. Dort hauste eine Hexe …«
Fasziniert hatte Melinda zugehört, wie ihre Mutter die einsame, düstere Landschaft in allen Einzelheiten beschrieb. Ein dunkles Moor in der Grafschaft Devon …
Es konnte kein Zufall sein, dass auf den Aquarellen und Zeichnungen, die man ihr zugeschickt hatte, genau dieses Moor abgebildet war!
Ihre Mutter hatte nie viel über sich oder ihre Kindheit gesprochen. Melinda erinnerte sich nur, dass sie einmal erzählt hatte, sie sei hier in Berlin im Haus einer englischen Bankiersfamilie aufgewachsen. Melindas Großmutter war dort als Erzieherin und Gouvernante für den jüngsten Sohn der Familie angestellt gewesen. Ihre Mutter war zusammen mit den Kindern des Bankiers, die wie Geschwister für sie gewesen waren, von einem englischen Hauslehrer unterrichtet worden, weshalb ihr die deutsche Sprache auch immer ein wenig fremd geblieben war. Sie hatte Melinda sogar einmal die feudale Villa gezeigt, in der sie in ihren Kindheitsjahren in Dahlem gelebt hatte. Seltsamerweise hatte erst das Paket Melinda klargemacht, wie gern sie mehr über die englische Herkunft ihrer Mutter gewusst hätte. Während des Krieges war es ihr immer taktlos, ja beinahe verräterisch vorgekommen, sich nach einem Familienzweig zu erkundigen, der aus England kam. Doch solange sie sich erinnern konnte, verspürte sie ein inneres Gefühl der Zerrissenheit, weil sie sich – obwohl sie in Deutschland geboren und aufgewachsen war – dort nie ganz zu Hause gefühlt hatte. Ein Teil von ihr, so war es ihr immer erschienen, gehörte hier nicht hin. Vielleicht rührte dieses Gefühl auch nur daher, dass die Sprache ihrer Kindheit immer das Englische gewesen war. Ihre Mutter hatte selten Deutsch mit ihr gesprochen. Melinda merkte plötzlich, wie sehr sie ihr fehlte. Sie entsann sich mit einem Mal so vieler Situationen und Momente mit ihrer Mutter, als wäre ein Damm zu all den längst verschollenen Erinnerungen eingerissen worden. Es schmerzte, an sie zu denken, im Geiste wieder ihre Stimme und ihr Lachen zu hören. Sie war sich inzwischen sicher, dass es zwischen dem Paket und ihrer Mutter eine Verbindung gab. Auch wenn sie noch nicht wusste, welche.
Und dann erinnerte sie sich plötzlich an noch etwas. Konnte das sein? Sie hielt in ihrem Schritt inne – nur um ihn im nächsten Moment schon wieder zu beschleunigen, während die Ahnung, die sie mit sich trug, schon fast zur Gewissheit wurde.
Aufgeregt hastete sie zu Hause die Treppe hoch und steckte den Schlüssel ins Schloss.
In der Wohnung war es still. Erleichtert, dass die Herders nicht da zu sein schienen, lief sie durch den Flur, schlüpfte schnell in ihr Zimmer. Ohne sich den Mantel auszuziehen, ließ sie sich auf den Knien nieder und bückte sich, um unter das Bett zu greifen. Zwischen den Bildern und Briefen ertastete sie die Schatulle und holte sie hervor, um sie zu öffnen. Erstarrt betrachtete sie die antike rote Dame-Figur. Sie war sich sicher, dass sie sich nicht täuschte. Ein leiser Schauer lief ihr über den Rücken. Warum war es ihr nicht gleich aufgefallen? Sie blickte auf die Uhr, doch es war schon zu spät. So schwer es ihr fiel, sie musste bis zum nächsten Tag warten.
8
D raußen war es noch nicht einmal hell, als es an der Haustür Sturm klingelte. Irene warf sich im Halbschlaf den Morgenmantel über und öffnete die Tür. Verwundert starrte sie Melinda an.
»Nicht, dass ich mich nicht über deinen Besuch freue, aber findest du es nicht etwas früh?« Sie gähnte.
Melinda lief an ihr vorbei ins Haus. »Hast du noch meinen Koffer?«, fragte sie angespannt.
»Mit deinen Sachen? Nein, den habe ich auf dem Schwarzmarkt versetzt!«, erklärte Irene trocken.
Melinda starrte sie an.
Irene erkannte, dass die
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