Die Schwestern von Sherwood: Roman
ihr geglaubt. Schon öfter hatten in seinem Geschäft Menschen vor ihm gestanden, die Dinge verkaufen mussten, die ihnen lieb und teuer waren. Warum hätte es bei ihr nicht auch so sein sollen?
»Dürfte ich fragen, weshalb Sie das wissen wollen?«, erkundigte er sich bei dem Mann. »Ich entsinne mich durchaus, dass Sie die Figuren vor ungefähr einem Jahr bei mir erstanden haben«, fügte er hinzu.
»Genau deshalb frage ich mich, wie sie jetzt wieder in Ihren Laden gekommen sind.«
»Sind Ihnen die Schachfiguren etwa gestohlen worden?«, fragte der Antiquitätenhändler vorsichtig.
»Nein, das nicht.« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich habe sie verschenkt.« Der Mann wirkte noch immer aufgewühlt. »Bitte, ich muss wissen, wer Ihnen die Figuren verkauft hat. Es ist von großer Bedeutung für mich!«
Der Antiquitätenhändler – erleichtert, dass es sich nicht um Diebesgut handelte – schüttelte bedauernd den Kopf. »Es tut mir leid, aber Sie müssen verstehen, dass die Diskretion das leider verbietet. Ich kann nicht die Namen meiner Kunden preisgeben.«
»Bitte!«, sagte der Mann tonlos und voller Verzweiflung.
Der Antiquitätenhändler schwieg.
»Erlauben Sie mir dann zumindest eine Frage? War es eine Frau, die sie verkauft hat? Hatte sie helle blonde Haare und war taub?«, stieß der Mann leise hervor.
128
A malia war bei Dr. Stevenson. Sie hatte ihm von der Schließung der Tuchfabrik erzählt, und er versicherte ihr, dass man ihr helfen werde.
Haben Sie einmal darüber nachgedacht, ob es neben dem Zeichnen noch eine andere Arbeit gibt, die für Sie infrage kommen könnte?
Die Frage überraschte Amalia. Als würde sie eine Wahl haben. Sie bewegte die Hände. Was immer ich bekomme, mache ich selbstverständlich.
Dr. Stevenson blickte sie nachdenklich an. Ich denke, dass Sie gut mit Menschen arbeiten könnten. Sie sind einfühlsam, und Sie können lesen und schreiben. Vielleicht wäre es möglich, dass Sie taube Kinder oder auch Erwachsene unterrichten?
Amalia blickte ihn erfreut an. Sie dachte daran, wie viel Spaß es ihr machte, Grace das Lesen und Schreiben beizubringen. Das würde ich sehr gern machen!
Dr. Stevenson versprach, sich diesbezüglich umzuhören. Kommen Sie finanziell zurecht, bis Sie eine neue Arbeit haben?
Amalia nickte. Sie hoffte es. Letzte Woche hatte sie die Schachfiguren in den Laden gebracht. Der Antiquitätenhändler hatte sie leider nur in Kommission genommen, aber er war zuversichtlich, sie verkaufen zu können. Es tat weh, das Geschenk, das ihr so viel bedeutet hatte, schließlich in dem Geschäft zurücklassen zu müssen. Als würde sie damit endgültig die letzte Verbindung zur Vergangenheit abbrechen. Nur der Gedanke, dass sie damit vermutlich einige Monate überleben konnte, half ihr.
Sie nahm wahr, dass Dr. Stevenson sie noch immer prüfend ansah. Sind Sie sicher, dass Sie zurechtkommen? , fragte er erneut.
Sie bemühte sich um ein zuversichtliches Lächeln. Ja. Amalia wusste, dass sich der Arzt in besonderer Weise für sie verantwortlich fühlte – auch wegen des Vorfalls mit Mr Beans –, doch er hatte ihr bereits genug geholfen. Aber ich danke Ihnen, dass ich mich im Notfall an Sie und die Organisation wenden kann , fügte sie hinzu.
Sie verabschiedete sich und machte sich anschließend auf den Weg zum Antiquitätengeschäft. Sie hatte mit dem Händler vereinbart, dass sie am heutigen Nachmittag noch einmal bei ihm vorbeikommen sollte. Amalia hoffte inständig, dass er schon einen Käufer gefunden hatte.
Angespannt lief sie die Straße entlang und warf einen Blick in das Ladenfenster. Ausgestellt waren die Figuren zumindest nicht. Es schien ihr ein gutes Zeichen. Sie betrat das Red Lions Antiques.
Der Antiquitätenhändler saß hinter dem Ladentisch, fast als habe er auf sie gewartet. Er begrüßte sie freundlich.
Amalia nickte ihm mit einem Lächeln zu und schickte sich an, ihren Block hervorzuholen, als sie unvermittelt innehielt. Etwas stimmte nicht. Der Händler wirkte nervös und warf schon zum zweiten Mal einen Blick seitlich hinter sie. Als würde dort jemand stehen. Und dann spürte sie, dass tatsächlich noch jemand im Raum war.
Sie drehte sich in einer schnellen Bewegung herum. An der karmesinroten Wand stand bewegungslos ein Mann. Einen Moment lang setzte ihr Herzschlag aus – die hochgewachsene Gestalt, das markante ebenmäßige Gesicht mit dem düsteren, melancholischen Zug, die aufgewühlten blauen Augen – alles an ihm war ihr
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