Die Schwestern von Sherwood: Roman
sah, dann würde sie versuchen, nach England zu reisen. Das hatte sie auf dem Weg hierher beschlossen. Wenn sie das alte Familiensilber versetzte und das wenige Ersparte, das sie besaß, dazunahm, müsste es für die Reise reichen. Brauchte man ein Visum für England? Major Colby würde ihr bestimmt helfen. Einen Pass hatte sie auf jeden Fall. Der Gedanke ließ sie sich sehr viel besser für das bevorstehende Gespräch gewappnet fühlen.
Plötzlich horchte sie auf. Aus dem Büro des Chefredakteurs drangen laute Stimmen. Ausgerechnet! Arno Scholz schien nicht besonders guter Laune zu sein. Melinda verzog das Gesicht. Wahrscheinlich gab es kaum einen ungünstigeren Tag für ein Gespräch mit ihm.
Sie strich nervös ihren Rock glatt und zuckte zusammen, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und der Chefredakteur höchstpersönlich mit hochrotem Kopf auf der Schwelle erschien. Er nahm keinerlei Notiz von ihr.
»Bernhard!«, brüllte er in einer beeindruckenden Lautstärke. Melinda war sich sicher, dass er vom Keller bis zum Dachgeschoss im gesamten Haus zu hören war. Kaum einige Sekunden vergingen, als man heraneilende Männerschritte vernahm und ein dunkelblonder Journalist auftauchte, dem Scholz in einer herrischen Geste bedeutete, ihm in sein Büro zu folgen. Die Tür blieb ein Stück offen, sodass Melinda den aufgebrachten Wortwechsel teilweise mithören konnte.
»Was heißt das, es gibt niemanden?«
Der Mann, der Bernhard hieß, schien etwas zu antworten, was leider nicht genau zu verstehen war. Es schien indessen nicht dazu angetan, Scholz zu beruhigen, denn der Tonfall des Chefredakteurs schwoll erneut an.
»Es ist mir egal, ob sich niemand freiwillig dafür gemeldet hat. Dann wird es eben auf Anordnung von mir sein. Ich will vier Journalisten! Haben Sie verstanden? Vier. Bis morgen!«
Melinda starrte auf den Aushang mit der Ankündigung für die Fortbildung in London.
Schließlich sah sie, wie Bernhard aus dem Büro kam und aufgebracht etwas vor sich hinmurmelte, während er den Flur entlang wieder aus ihrem Blickfeld entschwand.
»Sie können jetzt zu Herrn Scholz«, riss die Sekretärin sie aus ihren Gedanken. Sie war die Ruhe selbst – der Jähzorn ihres Chefs schien sie nicht sonderlich zu beeindrucken, stellte Melinda fest.
Scholz, der etwas schrieb, blickte nicht einmal auf, als sie das Büro betrat.
»Setzen Sie sich«, sagte er. Sein Gesicht war noch immer etwas gerötet, und seine Hand flog über das Papier.
Melinda nahm gehorsam Platz.
Schließlich legte er den Stift zur Seite. »Ich habe Ihre Reportage gelesen.« Er musterte sie. »Nicht schlecht. Sie haben durchaus Talent …«
Sie blickte ihn erfreut an, aber ihr Lächeln erstarb, als er ihr die zwei getippten Seiten reichte, die Melinda einige Tage zuvor abgegeben hatte. Entsetzt starrte sie auf den Text, der übersät war mit roten Korrekturen und Randbemerkungen, sodass man die getippten Zeilen kaum noch erkennen konnte. Nicht schlecht? Wenn das seine Reaktion darauf war, wie um Himmels willen sah dann ein Artikel aus, der dem Chefredakteur nicht gefiel?
»Hier und da ist Ihr Ausdruck nicht journalistisch genug. Außerdem verwenden Sie zu viele Adjektive«, erklärte Scholz. »Aber Sie haben gute Ansätze und zeigen ein eigenes Denken«, fügte er hinzu, ungerührt von ihrer Reaktion. »Ich muss zugeben, dass ich Ihnen das nach unserer ersten Begegnung nicht zugetraut hätte.«
Melinda, die sich inzwischen wieder gefangen hatte, spürte, wie die Überheblichkeit, die in seinem Tonfall lag, eine zunehmende Verärgerung in ihr hochsteigen ließ. »Warum nicht? Weil Major Colby sich für mich verwandt hat?«, fragte sie kühl.
Er warf ihr einen undurchdringlichen Blick zu. »Wahrscheinlich«, gab er dann offen zu. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ich kann Ihnen keine Stelle geben, das wäre ungerecht, denn Ihnen fehlt die Erfahrung, und für eine Volontärin sind Sie schon zu weit. Aber ich biete Ihnen an, dass Sie auf freier Basis für uns schreiben können. Ich würde die Artikel korrigieren und Ihnen ein kleines Grundeinkommen garantieren, und in einem halben Jahr sehen wir dann weiter.«
Melinda nickte zögernd. Es war nicht das, was sie sich erhofft hatte, aber zumindest ein Anfang. Doch dann sah sie Scholz an. Der Gedanke war ihr erst vorhin gekommen, und bestimmt hatte sie keine Chance, aber einen Versuch war es auf jeden Fall wert.
»Könnte ich mich damit auch für diese Fortbildung in London
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