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Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Winter
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war inzwischen in Melinda erwacht. Sie wusch ihren Teller ab, kehrte in ihr Zimmer zurück und ging zu den beiden Kisten, die in der Ecke neben dem Kleiderschrank standen. Darin befanden sich die traurigen Reste dessen, was von ihrer Wohnung nach dem Bombenangriff übrig geblieben war. Die Hälfte der Wohnung war verbrannt und zu Staub und Asche zerfallen, doch der Inhalt des Wohnzimmerschranks, in dem sich auch die Bücher befunden hatten, war wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Sie stellte den oberen Karton zur Seite und öffnete die Kiste darunter, in der sich die Bücher befanden.
    Staub haftete an ihrer Oberfläche, und sie nahm mehrere Exemplare heraus, bevor sie schließlich fand, was sie gesucht hatte. Es war ein Buch, das sie nach dem Tod ihrer Mutter zwischen vielen anderen im Regal entdeckt hatte. Sie war überrascht gewesen, es in ihrem Besitz zu finden, denn es ging darin um Gebärden und Zeichen, mit denen sich Taube verständigen und unterrichtet werden konnten. Das Buch, das in französischer Sprache verfasst war und aus dem achtzehnten Jahrhundert stammte, war großzügig in ein dickes, dunkelrotes Schutzpapier eingeschlagen, als hätte jemand dafür sorgen wollen, dass es nur ja keinen Schaden nahm. Der Autor war ein Mann namens Abbé de l’Epée. Sie hatte sich immer gefragt, was ihre Mutter mit dem Buch gewollt hatte, doch nun war sie sich plötzlich sicher, dass es einmal ihrer Großmutter gehört haben musste. Melinda blätterte durch die Seiten, auf einigen waren Hände und Finger abgebildet, die Zeichen und auch Buchstaben formten. Daneben stand ihre Bedeutung. Ob ihre Großmutter Jacob so unterrichtet hatte? Nachdenklich betrachtete sie die Abbildungen und fragte sich, wie es sein musste, wenn man sich nur mit solchen Zeichen und Gebärden verständigen konnte. Ihr trat wieder das Grammophon vor Augen, das ihr Gesine Krahnberg gezeigt hatte und dessen Schwingungen Jacob angeblich hatte spüren können. Irgendwann legte sie das Buch zur Seite. Der rote Schutzumschlag, der an der Seite in der Faltung etwas aufging, war verrutscht. Melinda wollte ihn zurechtrücken, als sie überrascht bemerkte, dass die Ecke eines vergilbten Stücks Papier unter der umgeschlagenen Kante hervorlugte. Vorsichtig zog sie es heraus. Es war ein Zeitungsartikel – nicht besonders groß und sorgfältig zusammengefaltet, beinahe gepresst, als wäre jemand viele Male mit der Hand darübergefahren, bis das Papier so glatt geworden war. Melinda faltete ihn auseinander. Er stammte aus der Times , anscheinend aus dem Lokalteil, wie man oben noch erkennen konnte, und war vom 15. April 1897. Es war kaum mehr als ein längerer Absatz.
    Im Dartmoor hat sich am vergangenen Sonntag, dem 11. April, ein tragischer Unfall ereignet, bei dem Lady Cathleen Hampton, die Ehefrau von Lord Edward Hampton, ums Leben kam, als sie sich nur wenige Meilen entfernt vom Anwesen Sherwood-Hampton bei einem schweren Unwetter verirrte und von den Fluten eines Flusses mitgerissen wurde. Es bleibt ungeklärt, warum Lady Hampton trotz der widrigen Wetterumstände allein im Moor unterwegs war. Der Unfall wiegt umso schicksalhafter, als die Schwester von Lady Cathleen Hampton, Miss Amalia Sherwood, nur eineinhalb Jahre zuvor ebenfalls im Dartmoor den Tod fand. Die Trauerfeierlichkeiten finden im engsten Familienkreis statt.
    Melinda konnte sich nicht dagegen wehren, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. Ungläubig starrte sie auf die Zeilen. Ihre Großmutter musste den Artikel aufgehoben haben, weil er für sie von Bedeutung gewesen war. Aber warum? Hatte sie diese Cathleen Hampton und ihre Schwester gekannt?
    Die Vermutung lag nahe. Vielleicht hatte sie in England vorher für die Hamptons oder Sherwoods gearbeitet? Melinda sah plötzlich die Bilder vom Dartmoor vor sich, die in dem Paket gewesen waren. Sie spürte instinktiv, dass es mehr als nur eine einfache Erklärung dafür gab, dass ihre Großmutter den Artikel so sorgfältig aufgehoben hatte. Welche Bedeutung hatte der Tod von Cathleen Hampton für sie gehabt?
    Als Melinda sich wenig später zu ihrer Verabredung beim Telegraf aufmachte, beschäftigte sie der Artikel noch immer.
    Wie bei ihrem ersten Besuch bat die Sekretärin sie, im Flur zu warten. Melinda starrte auf den Aushang am Schwarzen Brett und wartete darauf, zu Scholz vorgelassen zu werden. Sie war aufgeregt, was der Chefredakteur sagen würde. Falls er ihren Artikel schlecht fand und für sie keine Zukunft beim Telegraf

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