Die Schwestern von Sherwood: Roman
Ruinen umgeben war, und die Stille und Friedlichkeit ringsum erschien ihr wie Balsam für ihre Seele. Als sie eine Zeit lang gelaufen war, wurde der Weg schmaler und der Fluss zu ihrer Seite breiter und reißender. Die Landschaft mit ihren bräunlichen Hügeln und den kahlen Bäumen hatte nichts Liebliches, sondern etwas Karges und Raues, doch barg sie eine eigene Schönheit und etwas Geheimnisvolles. Ein zarter dunstiger Schleier lag in malerischen Schwaden über den Wiesen des Moors. Die Sonne, die immer wieder durch die Wolkendecke brach, ließ die grauen Felsformationen in der Ferne in einem wechselhaften Spiel für kurze Augenblicke aus dem Nebel hervortreten, um sie im nächsten auch schon wieder zu verschlucken. Fast so, als bewegten sie sich und wären zum Leben erwacht – seltsame, fremde Wesen, die nicht aus dieser Welt stammten. Jeder Busch, jeder Stein schien darauf zu brennen, eine Geschichte zu erzählen, so kam es Melinda vor.
Sie war schon einige Zeit gelaufen, als sie sah, dass sich ein schmaler Pfad von ihrem Weg abgabelte. Er führte auf einen der Hügel hinauf. Sie beschloss, einen kleinen Abstecher zu machen, um von dort die Aussicht zu genießen, und stieg den Pfad hoch. Außer Atem kam sie oben an. Ein Felsbrocken, der wirkte, als hätte ihn jemand direkt vom Himmel dorthin fallen lassen, lud zum Verweilen ein, und Melinda lehnte sich gegen den kühlen Stein. Die Sonne hatte sich wieder hinter den Wolken versteckt, dennoch konnte sie von hier oben fast bis zum Horizont schauen. Ein kühler Wind strich Melinda durchs Haar. Der Ausblick kam ihr seltsam vertraut vor, dachte sie. Und dann begriff sie aufgeregt, warum: Sie hatte ihn schon einmal gesehen – auf einer der Zeichnungen aus dem Paket. Genau diesen Ausschnitt der Landschaft mit den Hügeln, den Waldstücken und den beiden Felsen. Sie war sich ganz sicher. Auf dem Bild wirkte alles etwas näher, und es war zu einer anderen Jahreszeit entstanden, denn an den Bäumen waren Blätter gewesen, doch sonst war die Perspektive fast gleich. Und tatsächlich, ganz hinten, dort, wo die Landschaft nur noch verwischt zu erkennen war, zeigten sich auch die Umrisse des Herrenhauses, das auf der Zeichnung zu sehen war.
Das Bild musste hier oben entstanden sein. Sie sah plötzlich vor sich, wie jemand damals, vor über fünfzig Jahren, diesen Hügel heraufgestiegen war, bewaffnet mit Tusche und einem Zeichenblock, vielleicht sogar einer Staffelei, und sich hier zum Malen hingesetzt hatte. Es musste jemand gewesen sein, der die Einsamkeit liebte oder zumindest schätzte. Wie hatte sich das Leben zu jener Zeit wohl angefühlt? Für einen kurzen Augenblick konnte Melinda sich die Szenerie so lebhaft vorstellen, dass sie die malende Gestalt genau vor sich sah. Ein Kopf mit einem Hut, der von der Zeichnung aufblickte und über die Landschaft schaute, eine Hand, die mit dem Pinsel leise streichend über das Papier fuhr …
Das Schreien eines Vogelschwarms riss Melinda zurück in die Gegenwart, und die Szenerie vor ihren Augen löste sich wieder auf.
Erst jetzt sah sie, dass der Pfad, der den Hügel hinaufgeführt hatte, an einer anderen Stelle wieder nach unten und, sich weiter durch das Moor schlängelnd, in die Richtung des Anwesens zu führen schien. Ob es sich um dasselbe Herrenhaus handelte, das auch auf den anderen Bildern zu sehen war? Plötzlich wollte Melinda unbedingt dorthin. Sie überlegte nicht lange. Auf den Weg nach Whistman’s Wood konnte sie sich immer noch machen.
27
N ur eine knappe halbe Stunde später bereute sie ihre Entscheidung zutiefst. Das Gehen auf dem schmalen Pfad war mühselig. Obwohl die Gummistiefel eine Sohle mit Profil hatten, drohte sie immer wieder, auf dem matschigen Untergrund auszurutschen, und über ihr hatte der Himmel ein unerfreuliches, dunkles Grau angenommen. Sie musste an Mr Bensons Warnung denken, nicht die Wege zu verlassen. War ein Pfad ein Weg? Sie seufzte.
Immerhin konnte sie auf der nächsten Anhöhe feststellen, dass das Manor nicht mehr weit entfernt war. Doch dann ging es unvermittelt bergab, und Melinda erreichte ein Stück Wald, das ihr den Blick zu dem Herrenhaus erneut versperrte. Zu ihrem Unmut gabelte sich der Pfad vor ihr auf einmal. Unschlüssig blieb sie stehen. Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie gehen musste. Zu allem Überfluss hatte auch noch ein unangenehmer Nieselregen eingesetzt. Beinahe kam es ihr vor, als würde jemand nicht wollen, dass sie zu dem Anwesen
Weitere Kostenlose Bücher