Die Schwestern von Sherwood: Roman
Amalia durchlief, keimte regelmäßig die Hoffnung auf, wieder hören zu können, denn manchmal schien es ihr tatsächlich, als würde sie das tun. Wenn ihre Schwester auf sie zugerannt kam und sprudelnd etwas erzählte oder Miss Carrington sich zu ihr beugte und etwas sagte, gab es Augenblicke, in denen sie meinte, jedes Wort zu verstehen, ja sogar die Schritte und das Rascheln ihrer Röcke zu hören, wenn sie den Raum betraten. Doch es waren nur ihre vertraute Mimik und Gestik, die Bewegung ihrer Lippen, die sie, bevor sie etwas ausgesprochen hatten, schon ahnen ließ, was sie sagen wollten. Wenn Cathleen ihr dann aber den Rücken zuwandte oder Miss Carrington aus ihrem Blickfeld entschwand, war plötzlich alles still. Genau wie jetzt! Mit zusammengepressten Lippen starrte Amalia auf den Teich. Sie hatte sich allein in den Garten geflüchtet. Zwei Enten schwammen vor ihr auf dem nilgrünen Wasser und erhoben sich flügelschlagend ein Stück durch die Lüfte, um dann etwas weiter entfernt wieder zu landen. Amalia hätte schwören können, das leise Klatschen auf dem Teich zu hören, ja sogar das Prusten und Schnattern der Tiere. Sie schloss fest die Augen und konzentrierte sich – doch es war still. Die Geräusche verstummten, sobald sie nichts mehr vor sich sah. Sie öffnete wieder die Lider. Über ihr strich der Wind durch die Blätter der Bäume, die sich in einem tanzenden Reigen hin und her bewegten. Sie glaubte, das flüsternde Rascheln deutlich zu hören, aber es war eine Illusion. Die Töne, die Geräusche und Stimmen waren nur noch immer in ihr, hatte sie inzwischen begriffen, und ihr Verstand nahm sich aus der Erinnerung, was zu den Bildern vor ihr passte, und setzte sich die Wirklichkeit so zusammen, wie sie sie immer gekannt hatte.
Unwillkürlich ballte Amalia die Hände zu Fäusten. Eine dunkle Welle der Angst drohte sie erneut zu verschlingen, und sie bemühte sich vergeblich, ihre Tränen zurückzuhalten.
Eine Bewegung zwischen den Bäumen schreckte sie auf.
Es war Cathleen. Sie stand dort, fragend, und schaute sie an.
Amalia wandte den Kopf zurück zum Teich.
Wortlos ließ ihre Schwester sich an ihrer Seite auf die Erde sinken, so dicht, dass Amalia ihren Arm an dem ihren spüren konnte. Eine Zeit lang saßen sie beide einfach nur da, still und bewegungslos, und begannen schließlich, ein paar Kieselsteine, die am Ufer herumlagen, ins Wasser zu werfen.
Die Gegenwart ihrer Schwester beruhigte sie. Sie war einfach nur da, so wie sie immer da gewesen war, und Amalia war ihr dankbar dafür. Cathleen war die Einzige, die sich ihr gegenüber nicht verändert hatte, dachte sie.
Manchmal konnte sie das Mitleid in den Blicken der anderen und die Nachsicht, mit der man sie behandelte, als würde sie noch immer krank im Bett liegen, nicht mehr ertragen. Weder bei Miss Carrington noch bei ihrer Mutter, die ständig und viel zu viel lächelte, und auch nicht bei ihrem Vater. Früher hatte er ihr bei seiner Heimkehr nur kurz den Kopf getätschelt, um sich dann wieder seinen eigenen Angelegenheiten zu widmen, und nun kam er plötzlich jeden Abend zu ihr ans Bett. Er scherzte und machte Faxen, über die sie sich zu lachen bemühte, weil sie spürte, dass er sich das wünschte. Irgendwann zog er zwischen seinen Scherzen dann seine Taschenuhr hervor und hielt sie ihr ans Ohr.
» Hörst du das Ticken, mein Schatz? «
Sie schüttelte den Kopf, wenn sie die Frage von seinen Lippen las, und blickte ihn fest an. »Nein!«
Abend für Abend wiederholte er das quälende Ritual, und jedes Mal glomm in seinen Augen ein Hoffnungsschimmer auf, der sie sich fast schuldig fühlen ließ, weil sie das Ticken nicht hören konnte.
Ihre Eltern ließen weiter Ärzte kommen. Einige reisten von weit her an. Sie untersuchten sie in der gleichen Weise wie damals der grauhaarige Mann im Krankenhaus, hielten ihr ein trichterförmiges Gerät an den Kopf und tröpfelten ihr seltsame Flüssigkeiten ins Ohr. Später sprachen sie mit ernster Miene mit ihren Eltern. Es war das Gesicht ihrer Mutter, das Amalia schließlich ahnen ließ, dass ihre Welt nie wieder so sein würde wie vorher. Der freudige, erwartungsvolle Ausdruck, mit dem sie noch am Anfang jeden Arzt begrüßte, verschwand im Laufe der Wochen und Monate mehr und mehr. Mit starrer Miene nickte Elisabeth Sherwood nur, wenn die Ärzte ihr umständlich und langatmig alle dasselbe erzählten. Irgendwann schließlich hörten die Besuche der Ärzte auf, und auch ihr Vater kam am
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