Die Schwestern von Sherwood: Roman
sein schien. Ein Stapel von Büchern türmte sich um ihn herum, und er trug während des Frühstücks Notizen in ein Buch ein. Ein Wissenschaftler, vermutete Melinda.
Nach dem Frühstück fragte sie Mrs Benson, ob sie ihr den Weg zu Whistman’s Wood beschreiben könnte.
»Sicher! Zu dem Wanderweg gelangen Sie ganz leicht. Es lohnt sich. Der Wald ist sehr ungewöhnlich, selbst zu dieser Jahreszeit.«
»Aber bleiben Sie auf dem Hauptweg«, mischte sich eine Stimme ein. Ein Mann war auf der Schwelle zur Küche aufgetaucht. Er hielt einen Becher Tee in seinen geröteten Händen, und seine verschmutzte Kleidung verriet, dass er trotz der frühen Morgenstunde schon einige Stunden Arbeit hinter sich hatte. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Mr Benson, der den Hof betrieb, der an den Gasthof angeschlossen war. »Es hat viel geregnet, und der Untergrund im Moor kann dann tückisch sein«, erklärte er.
»Ich werde darauf achten. Vielen Dank für die Warnung«, erwiderte Melinda.
Er blickte auf ihre Schuhe. »Mit denen können Sie da aber nicht raus«, setzte er kopfschüttelnd hinzu.
Mrs Bensons Blick war dem ihres Mannes gefolgt. »Nein, das geht wirklich nicht. Ich werde Ihnen ein paar Gummistiefel holen.« Sie beharrte in ihrer Fürsorglichkeit nicht nur darauf, ihr die Gummistiefel, sondern auch ein Regencape und etwas Wegzehrung mitzugeben.
Wenig später befand Melinda sich auf dem Weg ins Dorf. Die Hauptstraße bestand aus einer Ansammlung von Häusern und einigen Geschäften und einer kleinen Kirche. Melinda betrachtete neugierig die wenigen Läden: ein Bäcker, ein Lebensmittelgeschäft, ein kleiner Zeitungsladen, in dem man auch Papier und Landkarten kaufen konnte – und ein Pub. Aus einem der Schaufenster blickte ihr ihr Spiegelbild mit den Gummistiefeln und dem alten abgetragenen Mantel entgegen – Melinda musste grinsen. Sie sah wirklich seltsam aus. Kein Wunder, dass sie einige der Leute musterten.
Wie zur Bestätigung bemerkte sie, dass vom Pub auf der anderen Straßenseite drei Männer zu ihr herüberschauten.
Ihr Gesichtsausdruck wirkte nicht neugierig, sondern abfällig, beinahe feindselig. Einer der drei war Ned, der Knecht der Bensons, der sie gestern in Exeter abgeholt hatte. Sie nickte ihm freundlich zu. Er erwiderte den Gruß knapp, ohne dass sich auch nur die Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht zeigte. Ein Gefühl der Beklemmung ergriff Melinda. Sie hatten darüber gesprochen, dass sie Deutsche war, ahnte sie. Sie konnte den Blick der Männer in ihrem Rücken spüren. Was hatte sie erwartet? Der Krieg war noch überall viel zu gegenwärtig, als dass ihre deutsche Herkunft keine Rolle spielen würde. Im Grunde konnte sie sich nicht einmal beschweren. Die meisten Engländer waren ihr bisher überraschend nett und freundlich begegnet, musste sie zugeben.
Ein lautes Motorengeräusch riss sie aus ihren Gedanken. Als sie aufblickte, sah sie einen sportlich geschnittenen Wagen um die Ecke biegen. Das Auto hätte ebenso wie sein Insasse eher nach London als hier draußen ins Dartmoor gepasst. Der Fahrer war ein Mann in den Vierzigern. Den Ellbogen lässig auf dem heruntergekurbelten Fenster abgelegt, saß er hinter dem Steuer und fuhr mit hohem Tempo an ihr vorbei. Wahrscheinlich handelte es sich um einen der Bewohner der umliegenden Manors und Herrenhäuser. Es gab hier etliche solcher Anwesen – auch wenn viele von ihren Besitzern nur an einigen Wochen im Jahr bewohnt wurden.
Hinter ihr war das Geräusch quietschender Reifen zu hören. Der Wagen war anscheinend vor einem der Geschäfte zum Stehen gekommen. Ein leichtes Lächeln umspielte Melindas Lippen. Es war anzunehmen, dass das Fahrverhalten des Mannes unter den Dorfbewohnern erst einmal für genug Gesprächsstoff sorgen würde, um in Vergessenheit geraten zu lassen, dass gerade eine Deutsche die Hauptstraße entlanggelaufen war.
26
D er Wanderweg nach Whistman’s Wood begann nicht weit hinter dem Ortsausgang und führte direkt an einem Fluss entlang. Schon nach wenigen Schritten fühlte Melinda sich wie befreit. Die Bewegung tat ihr gut. Ein Geruch nach feuchtem Moos und Gras lag in der Luft, die kühl, aber dennoch mild war. Man sah, dass es in den letzten Wochen viel geregnet hatte – die Wiesen des Moors wirkten morastig, und der Boden war nass und von Pfützen durchsetzt. Melinda dankte Mrs Benson insgeheim für die Gummistiefel, die sie ihr gegeben hatte.
Ewig war es her, dass sie nicht von Häusern und
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