Die Schwestern von Sherwood: Roman
waren von der Fortbildung ausgenommen, und Melinda hatte deshalb für den Donnerstagabend eine Zugfahrt nach Exeter ins Dartmoor gebucht. Die Eindrücke der ersten Tage in England waren so intensiv und vielfältig gewesen, dass sie froh war, etwas Zeit ganz für sich allein zu haben. Das Gespräch mit Mrs Finkenstein hatte sie aufgewühlt – und verwirrt. Sie merkte, dass die Gedanken unaufhörlich durch ihren Kopf kreisten, während sie zu begreifen versuchte, was das Verbindungsglied zwischen ihrer gehörlosen Großmutter und dem Paket war. Stärker als jemals zuvor hatte sie das Gefühl, dass sie dorthin fahren musste, wo die Zeichnungen und Aquarelle entstanden waren. Nur dort konnte sie eine Antwort finden, das spürte sie. Und wenn nicht? Dann würde es zumindest ein spannender Ausflug werden, dachte Melinda.
Sie lehnte den Kopf gegen die kühle Scheibe und blickte nach draußen. Die einbrechende Dämmerung hatte einen grauen Schleier über die Landschaft gelegt, aus der sich Hügel und Wälder nur noch in schemenhaften Silhouetten hervorhoben. Langsam tauchten auch sie in die Dunkelheit. Melinda versuchte etwas zu lesen. Emil hatte ihr kurz vor ihrer Abreise ein schmales Buch in die Hand gedrückt. Der Hund von Baskerville , von Arthur Conan Doyle.
»Damit du in die richtige Stimmung kommst«, hatte er mit einem Augenzwinkern gesagt, als er hörte, dass sie über das Wochenende ins Dartmoor fahren würde. Schon nach wenigen Seiten war Melinda in die Geschichte vertieft. Es ging um einen Fall von Sherlock Holmes, der im Dartmoor das Geheimnis eines jahrhundertealten dämonischen Fluchs aufklärte, dem die männlichen Erben der Familie Baskerville zum Opfer fielen. Die Atmosphäre war unheimlich, ja, beinahe gruselig. Zumindest, wenn man wie sie allein in einem Abteil saß und es draußen stockfinster war, dachte Melinda. Jedes Knarren des Zugs hatte plötzlich etwas Gespenstisches, und sie schreckte ein paar Mal zusammen, als draußen das schrille Aufheulen der Dampflok zu hören war.
Es war fast neun Uhr, als sie Exeter erreichte.
Melinda hatte sich in Old Postbridge telegrafisch in einem Landgasthof ein Zimmer bestellt, und man hatte ihr mitgeteilt, dass jemand sie vom Bahnhof abholen würde.
Suchend schaute sie sich jetzt um. Nur wenige Menschen waren auf dem Bahnsteig zu sehen. Einen Augenblick lang befürchtete sie schon, man habe sie vergessen, als ein Mann, dessen Gesicht vom Wetter gegerbt war und der die bäuerliche Kleidung eines Knechts trug, auf sie zukam.
»Miss Leewald?«
Sie nickte.
Er lüftete seine abgewetzte Schirmmütze. »Ned Barker vom Postbridge Inn. Ich soll Sie mitnehmen«, sagte er in einem südenglischen Akzent, der für sie nicht einfach zu verstehen war.
»Hallo.« Sie lächelte. »Danke, dass Sie mich abholen.«
»Machen wir immer. Im Februar fährt der letzte Bus mittags raus«, erklärte er und nahm ihr die Tasche ab. Sie folgte ihm nach draußen zu einem Wagen, dessen Rückbank mit Lebensmitteln und Kartons vollgeladen war. Er verstaute ihr Gepäck dazwischen, und sie nahm neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz.
»Es ist das erste Mal, dass ich in Südengland bin. Ich bin schon sehr gespannt«, sagte sie.
Er warf ihr nur einen kurzen Blick zu, ohne etwas zu erwidern. Wahrscheinlich fand er es eher seltsam, dass eine junge Frau im Februar allein ins Dartmoor fuhr, ging ihr auf. Oder er hatte ihren deutschen Akzent herausgehört. Auf jeden Fall schien Ned kein Mann vieler Worte zu sein. Das laute Motorengeräusch machte eine Unterhaltung ohnehin fast unmöglich. Melinda spähte nach draußen, aber das Licht der Scheinwerfer ließ sie in der Dunkelheit kaum etwas erkennen. Nur die Unebenheit der Straße verriet ihr, dass sie inzwischen weit draußen auf dem Land sein mussten.
Sie war froh, als sie nach einer guten Stunde Fahrt endlich auf die Lichter eines Hauses zufuhren und sie am Postbridge Inn angekommen waren.
24
M rs Benson, die rundliche Wirtin, war die Herzlichkeit in Person. »Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise! Ned wird Ihre Sachen auf Ihr Zimmer bringen. Es ist zwar schon spät, aber ich habe noch etwas Suppe. Sie sind bestimmt hungrig nach der langen Fahrt.«
Wenig später saß Melinda an einem großen Holztisch in der steinernen Eingangshalle, in der ein gemütliches Feuer im Kamin brannte. In einem Lehnstuhl am Fenster saß ein alter Mann mit schlohweißen Haaren. Er hatte das Gesicht zum Fenster gewandt, schien aber zu schlafen, denn seine Augen
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