Die Schwestern von Sherwood: Roman
gelangte.
Mrs Benson insgeheim ein zweites Mal dankend, zog Melinda das Regencape über. Da entdeckte sie an einem der Baumstämme ein verwittertes Schild, das nach rechts wies. Ein Name war in das morsche Stück Holz geschnitzt: Landshire . Das musste das Manor sein!
Sie beschleunigte ihren Schritt, und kurz darauf tauchte vor ihr tatsächlich das Anwesen auf, das weitläufig von Mauern umschlossen war. Sie musste sich auf der Rückseite befinden, denn es war weder ein Tor noch eine Einfahrt zu entdecken. Immer an der Mauer entlang stapfte sie durch den Morast um den Besitz herum zur Vorderseite. Ungefähr auf der Hälfte erkannte sie, dass das Gebäude nicht mehr bewohnt war. Steine fehlten in der Mauer, und als sie einen Blick darüber warf, zeigten sich ihr wild gewachsene Büsche, Bäume und Hecken, die nur noch vage etwas davon ahnen ließen, wie der Garten einmal angelegt gewesen war. Durch die kahlen Äste aber konnte man das Herrenhaus erkennen. Efeu rankte sich verwunschen über seine Fassaden und die beiden Ecktürmchen. Obwohl die Farbe von den Fensterrahmen blätterte, hatte es noch immer etwas Prachtvolles und Elegantes an sich.
Noch bevor Melinda die Vorderseite erreicht hatte, wusste sie, dass es das Herrenhaus von den Bildern war. Ihr Herz schlug schneller, als sie vor dem großen Gittertor stehen blieb. Es war verschlossen.
Einen Moment lang spürte sie weder den feinen Nieselregen, der ihr Gesicht benetzte, noch sah sie den Nebelschleier, der dichter wurde, sondern sie blickte durch die eisernen Stäbe zu dem Herrenhaus: Eine gerundete Treppe führte zu einer großen Eingangstür hinauf, die von zwei Halbsäulen flankiert wurde, und es erschien ihr, als müsste man nur dort hindurchgehen, um das Reich einer vergessenen, längst vergangenen Zeit zu betreten.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so gestanden hatte, als sie merkte, dass ihr kalt war. Der Nebelschleier hatte sich unmerklich verdichtet. Sie musste sehen, dass sie zurückkam.
Leider machte der Hauptweg, der zu dem Anwesen führte, keinen sehr viel besseren Eindruck als der Pfad, auf dem sie hierhergelangt war, stellte sie fest. Er war matschig, und man konnte nicht einmal erkennen, wohin er führte. Das Beste würde wohl oder übel sein, so zurückzugehen, wie sie gekommen war. Fröstelnd und mit eiligen Schritten machte sie sich auf den Weg.
Während die dunstigen Nebelschwaden auf dem Hinweg eher malerisch wirkten, hatte die eingeschränkte Sicht nun etwas zunehmend Unheimliches. Sie konnte kaum mehr als ein paar Schritte weit nach vorne blicken. Vereinzelt war in der Ferne das Krächzen eines Vogels auszumachen, aber sonst vernahm Melinda nichts – nur ihren eigenen Atem und das Quietschen ihrer Gummistiefel, die immer wieder in dem matschigen Untergrund festzustecken drohten.
Doch dann war etwas entfernt mit einem Mal ein unheimliches Geräusch zu hören. Eine Stimme? Nein, ein Schnauben! Es wurde lauter. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Bildete sie sich das nur ein? Gegen ihren Willen stiegen die Erinnerungen an die Märchen ihrer Kindheit in ihr hoch, und sie merkte, wie die Fantasie mit ihr durchzugehen drohte. Sie lief schneller und wandte sich im Laufen immer wieder um. Entsetzt bemerkte sie in diesem Augenblick, wie zwischen den Schwaden schemenhaft etwas Großes, Dunkles auf sie zukam. Melinda begann zu rennen, verlor dabei auf dem schlickigen Untergrund den Halt, rutschte und landete mit einem Aufschrei im Matsch. Sie drehte sich panisch um, wollte aufstehen – nur weg von hier – und sah ungläubig, wie vor ihr aus dem Nebel, einer Erscheinung gleich, die Gestalt eines Reiters auftauchte. Erschrocken starrte sie den Fremden an.
AMALIA
28
D ie Welt erhielt ein anderes Gesicht und mit ihr die Menschen um sie herum. Die Veränderungen kamen nicht jäh und plötzlich, sondern schleichend – wie ein lauter Ton, der langsam leiser wurde, in ein Summen überging, um schließlich ganz zu verstummen.
In den ersten Wochen beherrschte Amalia vor allem die Angst. Es war ein Gefühl der Panik, das allgegenwärtig war. Sie kam sich wie gefangen vor, hinter Wänden aus dickem Glas.
Sie sei schwer krank gewesen, hatte man ihr erklärt. Deshalb könne sie nicht hören. In langsamen Worten hatten ihre Eltern das gesagt und es so lange wiederholt, bis Amalia es von ihren Lippen lesen konnte. Alles würde wieder gut werden, sagten sie – und anfangs hatte sie das auch geglaubt. In dem Sturm der Emotionen, den
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